Wie viel Staat braucht der Mensch?
Die Institution "Staat" erscheint selbstverständlich. Schließlich ist sie allgegenwärtig: Arbeitsverhältnisse, Gesundheits- und Altersversorgung, Bildung und Ausbildung, Erziehung und Wissenschaft, selbst die intimsten familiären Beziehungen, das Verhältnis von Männern und Frauen, Eltern und Kindern sind heute von staatlichen Strukturen durchzogen und werden durch Vorgaben oft bis ins Detail geregelt. De facto jedoch erweist sich die Form einer staatlichen Organisation keinesfalls selbstverständlich - wie wäre es ansonsten möglich, von einem "mehr" oder "weniger" an Staat als Ziel politischen Handelns zu sprechen oder die Wiedererrichtung staatsfreier Zonen zu diskutieren? Wie ließen sich Phänomene wie die Verlagerung der Gesetzgebung und Rechtsprechung auf supra-staatliche Institutionen erklären, wie die Organisation von Kriegen durch Privatunternehmer, wenn "der Staat" eine gleichsam naturgegebene Größe wäre, deren Handlungsmaximen niemand entrinnen kann?
"Ein Vergleich von Spätantike und Früher Neuzeit unter der Fragestellung der 'Staatlichkeit' verspricht daher neue und weitergehende Erkenntnisse sowohl für die beiden Epochen als auch für die Frage nach dem Wesen des 'Staates' überhaupt und dem analytischen Nutzen dieser Kategorie. Diesen Vergleich hat die Tagung 'Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit' zum Ziel, die vom 3. bis 5. April in Heidelberg in den Räumen der Akademie stattfindet und die Reihe der Konferenzen des wissenschaftlichen Nachwuchses an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften fortsetzt", so Dr. Sebastian Schmidt-Hofner. Konzipiert und organisiert wurde die Tagung von Prof. Dr. Peter Eich ("Kultur der Antike", Universität Potsdam), Dr. Sebastian Schmidt-Hofner (Seminar für Alte Geschichte, Universität Heidelberg) und Dr. Christian Wieland (Historisches Seminar, Universität Freiburg). In vier Sektionen zur institutionellen Entwicklung der jeweiligen Staaten, zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie, zur Bedeutung der Religion und zur Formierung der Gesellschaften konfrontieren sechzehn junge Historikerinnen und Historiker aus Europa und den USA alt- und neuhistorische Forschungsansätze miteinander und bringen sie dabei in einen spannungsreichen Dialog.
Die Auflösungserscheinungen des Staates in der Postmoderne schärfen das Bewusstsein dafür, dass es sich bei den Staatsgebilden europäischer und nordatlantischer Prägung um Produkte einer historischen Sonderentwicklung handelt, die nicht universell verallgemeinerbar und deshalb erklärungsbedürftig ist. Besondere Bedeutung in dieser Sonderentwicklung hatte die europäische Frühe Neuzeit (1500 - 1800) als diejenige Periode, in der sich der Prozess der Staatsbildung stark intensivierte und beschleunigte. Diese besondere Bedeutung ist von der Forschung aller relevanten Disziplinen auch immer wieder gewürdigt worden. Oftmals bleibt jedoch unbeachtet, dass sich ein vergleichbarer Prozess schon zuvor einmal in der europäischen Geschichte vollzogen hatte. Das politische System der römischen Kaiserzeit durchlief in der Spätantike (300-600) eine ähnliche Entwicklung: Auch hier lässt sich eine graduelle Ausweitung der hoheitlichen Regelungsansprüche feststellen, und auch hier ging dieser Prozess mit einem beständigen Ausbau der Staatsgewalt einher.
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