Supercomputer simuliert Aussterben des Neandertalers
Die Neandertaler lebten mindestens 300.000 Jahre lang in Eurasien. Dann, vor etwa 43.000 bis 38.000 Jahren, verschwanden sie schnell von der Erdoberfläche und hinterließen nur schwache genetische Spuren in den heutigen Homo sapiens-Populationen. Dass ihr Aussterben mit einer Periode rasch schwankender klimatischer Bedingungen sowie mit der Ankunft des Homo sapiens in Europa zusammenfiel, ist bekannt. Zu bestimmen, welcher dieser Faktoren die vorherrschende Ursache war, ist jedoch nach wie vor eine der größten Herausforderungen der evolutionären Anthropologie.
Um zu quantifizieren, welche Prozesse beim Zusammenbruch der Neandertaler-Populationen eine wichtige Rolle spielten, muss man mathematische Modelle verwenden, die die Wanderung von Neandertalern und Homo sapiens, ihre Wechselwirkungen, ihre Konkurrenz und ihre Kreuzung in einem sich verändernden klimatischen Umfeld realistisch simulieren können. Solche Modelle gab es bisher nicht.
In einem neuen Artikel, der in Kürze in der Zeitschrift Quaternary Science Review erscheinen wird und von dem vorab ein Abstract veröffentlicht wurde, stellt Axel Timmermann, Direktor des IBS Center for Climate Physics an der Pusan National University (Südkorea), die erste realistische Computersimulation des Aussterbens der Neandertaler in ganz Eurasien vor. Das Modell, das aus mehreren tausend Zeilen Computercode besteht und auf dem IBS-Supercomputer Aleph ausgeführt wird, löst eine Reihe mathematischer Gleichungen, die beschreiben, wie sich Neandertaler und Homo sapiens in einer sich zeitlich verändernden Gletscherlandschaft und unter wechselnden Temperatur-, Niederschlags- und Vegetationsmustern bewegten. In dem Modell konkurrieren beide Homininen-Gruppen um die gleichen Nahrungsressourcen, und einem kleinen Teil wird erlaubt, sich zu kreuzen. Die Schlüsselparameter des Modells werden aus realistischen Klima-Computermodellsimulationen sowie genetischen und demographischen Daten gewonnen.
»Dies ist das erste Mal, dass wir die Hauptfaktoren quantifizieren können, die zum Aussterben der Neandertaler führten«, sagte Timmermann. »Im Computermodell kann ich verschiedene Prozesse an- und ausschalten, zum Beispiel abrupte Klimaveränderungen, Kreuzungen oder Konkurrenz«, so Timmermann. Durch den Vergleich der Ergebnisse mit vorhandenen paläoanthropologischen, genetischen und archäologischen Daten zeigte Timmermann, dass ein realistisches Aussterbeszenario im Computermodell nur möglich ist, wenn der Homo sapiens gegenüber den Neandertalern deutliche Vorteile bei der Ausbeutung der vorhandenen Nahrungsressourcen hat. Auch wenn das Modell die Details nicht spezifiziert, könnten mögliche Gründe für die Überlegenheit des Homo sapiens in besseren Jagdtechniken, stärkerer Resistenz gegen Krankheitserreger oder höherer Fruchtbarkeit liegen.
Was genau die Ursache für den raschen Untergang der Neandertaler war, blieb lange Zeit ungeklärt. Dieser neue Computermodellierungsansatz identifiziert die kompetitive Ausgrenzung als den wahrscheinlichen Grund für das Verschwinden unserer Vettern. »Die Neandertaler lebten in den letzten 300.000 Jahren in Eurasien und erlebten und passten sich an abrupte Klimaveränderungen an, die noch dramatischer waren als die, die während der Zeit des Verschwindens der Neandertaler auftraten. Es ist kein Zufall, dass die Neandertaler genau zu der Zeit verschwanden, als der Homo sapiens begann, sich in Europa auszubreiten«, sagt Timmermann. Er fügt hinzu: »Die neuen Simulationen im Computermodell zeigen deutlich, dass dieses Ereignis die erste größere Ausrottung war, die durch unsere eigene Spezies verursacht wurde«.
Ein Forscherteam am IBS-Zentrum für Klimaphysik verbessert nun das Computermodell, um auch die Megafauna mit einzubeziehen und realistischere Klimamodelle zu implementieren. »Dies ist ein neues Forschungsgebiet, in dem Klimawissenschaftler mit Mathematikern, Genetikern, Archäologen und Anthropologen zusammenarbeiten können«, sagte Axel Timmermann.
Publikation
Quantifying the potential causes of Neanderthal extinction: Abrupt climate change versus competition and interbreeding
Quaternary Science Reviews 238. 15.06.2020
DOI: 10.1016/j.quascirev.2020.106331
https://www.sciencedirect.com/science/ar...
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