Marie Heim-Vögtlin-Preis 2024: Grab-Recycling in der Spätantike
Gerade in Zeiten des Umbruchs und während Krisen müssen Ressourcen durch Kreativität, Recycling und Kreislaufwirtschaft geschont werden. Oftmals besinnen sich Gesellschaften dann auf lokale Ressourcen in nächster Nähe zurück. Das ist heute so – und war in der Spätantike nicht anders, wie Cristina Murer mit ihrer Forschung zeigen konnte. Allerdings bediente man sich damals sogar bei den Toten. Als Ambizione-Projektleiterin an der Universität Bern erforschte sie dieses Grab-Recycling. Dafür erhält sie vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) den Marie Heim-Vögtlin-Preis 2024.
Zerstörung hiess Bewahrung
«Die Spätantike steht nicht für den Niedergang der menschlichen Zivilisation, sie war eine Zeit des Übergangs», sagt Murer. Damals war der Handel von Marmor zusammengebrochen. Neue Bezugsquellen fand man in den prachtvollen, inzwischen herrenlosen römischen Gräbern vor Ort. «Ich konnte zeigen, dass ihre Plünderung und Zerstörung Teil wichtiger Recyclingprozesse in Städten war; ein kreativer Prozess, aus dem Neues entstand. Die Gräber wurden also nicht, wie bisher angenommen, von Christen im Zuge antiheidnischer Massnahmen zerstört.»
Zerstörung bedeute also nicht automatisch das Ende. Ganz im Gegenteil: Überhaupt erst durch die kreative Wiederverwendung sei somit der Schmuck antiker Grabbauten über die Zeit erhalten geblieben. «Fast alles aus der Spätantike, was nicht recycelt und umfunktioniert wurde, ist heute zerstört.»
Minutiöse Archivarbeit mit alten Tagebüchern
Neben der Arbeit mit den archäologischen Befunden legte Murer grossen Wert darauf, diese interdisziplinär auszuwerten und in ihren umfassenderen historischen Kontext zu stellen. «Viele Informationen zum Grabraub in der Spätantike habe ich Gesetzestexten und literarischen Quellen der Zeit entnommen. Zudem kämpften wir uns in minutiöser Archivarbeit durch die italienischen Ausgrabungstagebücher des frühen 20. Jahrhunderts. Das wird heute kaum noch gemacht, ist aber von grossem wissenschaftlichem Wert.» Früher habe man kein Interesse an den spätantiken Schichten gehabt und sie einfach abgetragen. «Mit den alten Grabungstagebüchern konnten wir diese aber ansatzweise rekonstruieren.»
Murers Interesse an der Epoche begann, als sie sich in ihrer Doktorarbeit mit Ehrenstatuen von wohlhabenden Frauen im öffentlichen Raum beschäftigte. Sie fand heraus, dass viele Statuen aus der Kaiserzeit in der Spätantike wiederverwendet, also recycelt wurden. Oftmals stammten die Kunstwerke aus alten Gräbern. «Das hat mir zunächst niemand geglaubt – bis ich es schliesslich beweisen konnte. Dann wollte ich wissen, was noch alles hinter dem Phänomen steckt.»
Jetzt den Marie Heim-Vögtlin-Preis zu erhalten, bedeutet Cristina Murer viel. «Ich freue mich besonders, dass ich diesen Forschungspreis für ein Orchideenfach wie die Klassische Archäologie erhalte.» Explizit als Frau ausgezeichnet zu werden, sei ebenfalls sehr wichtig, um Forscherinnen in ihrem Fachgebiet weiter sichtbar zu machen. «Ich wurde immer nur von Männern unterrichtet und jetzt bin ich die erste Professorin am Institut in Tübingen.»
Dieser Wandel sei für die Studierenden wichtig. Auch kämen Studentinnen mit frauenspezifischen Anliegen jetzt zu ihr, der Vertrauensperson. Der Vorwurf, eine Quotenfrau zu sein, ist Cristina Murer zwar schon begegnet. Da müsse man aber drüberstehen, sagt sie. Ihre Tipps? «Ein gesundes Selbstvertrauen entwickeln, sich mit anderen Forscherinnen und Forschern in internationalen Netzwerken vernetzen und lernen, sich besser zu verkaufen.» Um letzteres zu fördern, hat Murer kürzlich für ihre Studentinnen eine Rhetorikschulung organisiert.
Die Preisverleihung findet am 12. November in Bern statt. Mit dem Marie Heim-Vögtlin-Preis würdigt der SNF jedes Jahr eine hervorragende Nachwuchsforscherin.
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