Grabinschriften, die nicht gelesen werden sollten
Die Grabinschriften großer europäischer Herrscher sind häufig recht gut erhalten, da die Särge und Grabsteine geschützt vor Witterungseinflüssen in Kirchen und Grufträumen stehen. Trotzdem wurde von vielen Inschriften bisher kaum Notiz genommen; sie sind schlecht lesbar und wurden wohl auch als historische Quellen nicht sonderlich ernst genommen. Die Philologin Veronika Rücker, die seit fünf Jahren an der Technischen Universität Dresden forscht, hat in ihrer Dissertation erstmals versucht, den Grabinschriften der Hohenzollern beizukommen: sie hat sie von den Originalen abgeschrieben, übersetzt und ausführlich kommentiert.
Einige ungewöhnliche Besonderheiten sind darunter. Die barocken Inschriften des 17. Jahrhunderts im Berliner Dom zum Beispiel fallen auf durch ihre extreme Länge. Bis zu 500 Wörter in 75 Zeilen sind auf die Zinnsärge eingraviert. Eigentlich sehr unpraktisch, da die Inschriften ja im Vorübergehen gelesen werden sollten. Die lateinischen Texte, die Veronika Rücker untersuchte, beginnen mit einem langen Prosateil. Am Anfang stehen eine Formel, die Namen und die Titel des Verstorbenen und eine kurze Genealogie: "Gott, dem besten größten geweiht. Joachim Friedrich, Markgraf von Brandenburg, aus uralter Familie der Grafen von Zollern." Es folgt ein detaillierter Lebenslauf, der auf folgende Punkte eingeht: Geburtsort und -datum, Erziehung und Ausbildung, Ehe, Ämter, Taten, Vorzüge, Kinder, letzte Krankheit und Sterbeszene: Abschließend werden die genaue Lebenszeit und die Sterbestunde angegeben. Darunter findet sich bei einigen Inschriften ein Epigramm, das den Verstorbenen liebevoll ehrt.
Wer sollte diese langen Erzählungen in komplizierter lateinischer Syntax lesen? Veronika Rücker meint: niemand. Die kleine auf die waagerechte Deckelfläche der Zinnsärge gravierte Schrift erstreckt sich vom Kopfende des Sarges bis zum Fußende und konnte unmöglich in der dunklen Gruft gelesen werden. Wofür wurde nun solche Sorgfalt auf das Verfassen von Texten gelegt, die nicht gelesen werden konnten? Die Wissenschaftlerin hat dafür eine Erklärung: die Texte wurden gemeinsam mit den Leichenpredigten gedruckt und in recht hohen Auflagen veröffentlicht. So war die Inschrift auf dem Sarg wie eine Grabbeigabe allein dem Verstorbenen gewidmet, während die Nachwelt mithilfe der Druckversionen im privaten Rückzug des Toten gedenken, die eigene Sterbevorbereitung angehen und sich erbauen konnte.
Da zu einem aussagekräftigen Vergleich zu den Grabinschriften anderer Herrscherdynastien meistens die Grundlagen fehlen, hat Veronika Rücker 2007 anlässlich des Jahres der Geisteswissenschaften das Projekt "Vetera Wettinensia" ins Leben gerufen, um eine weitere Dynastie hinsichtlich ihrer Bestattungskultur zu erschließen. Studentinnen und Studenten des Instituts für Klassische Philologie der TU Dresden sind mit der mühsamen Erarbeitung des Quellenmaterials, der Transkription, Übersetzung und Kommentierung und der Suche nach Druckversionen der Wettinerinschriften in den Grablegen zu Meißen, Freiberg und Dresden beschäftigt. Die Ergebnisse werden 2008 in einer Ausstellung präsentiert.
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