Forscher enträtseln die Bevölkerungsentwicklung Europas in der Jungsteinzeit
Einem internationalen Forscherteam, bestehend aus Anthropologen der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, des Australian Centre for Ancient DNA in Adelaide/Australien sowie Archäologen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt in Halle (Saale) ist es erstmals gelungen, anhand umfangreicher DNA-Untersuchungen an jungsteinzeitlichem Skelettmaterial die komplizierte Bevölkerungsentwicklung Europas zu entschlüsseln. Untersucht wurden hierzu mehrere hundert Skelette von insgesamt 25 Fundplätzen des Mittelelbe-Saale-Gebietes. Die mitteldeutschen Menschenfunde eignen sich wegen der hier herrschenden günstigen Erhaltungsbedingungen besonders gut für genetische Untersuchungen.
Während der Jungsteinzeit (Neolithikum) besiedelte eine Vielzahl von Kulturgruppen Europa, die anhand ihrer materiellen Hinterlassenschaften archäologisch unterschieden werden können. Insbesondere im Mittelelbe-Saale-Gebiet, im Süden Sachsen-Anhalts, trafen während der ersten 4.000 Jahre bäuerlicher Sesshaftigkeit wiederholt weite Landstriche überspannende Kultur- und Bevölkerungsgruppen aufeinander. Dies führte zu einer großen Zahl eigenständiger neolithischer Gruppen. Ob sich hinter diesen im archäologischen Bild fassbaren Kulturen auch genetisch unterschiedliche Populationen abzeichnen, ist eine der Kernfragen der Neolithikumsforschung. Der Forschergruppe ist es nun gelungen, die Populationsdynamik während des Neolithikums in Zentraleuropa zu rekonstruieren, die mit genetischen Einträgen aus dem Nahen Osten, Nord-, Ost- und Westeuropa verbunden war und die genetische Zusammensetzung der heutigen Europäer entscheidend prägte. Die Ergebnisse dieser Studie repräsentieren die erste detaillierte Rekonstruktion der Besiedelungsgeschichte Europas und wurden heute im international renommierten Fachmagazin Science publiziert und in Presseterminen in Halle und Adelaide von den dort beteiligten Forschern vorgestellt.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die National Geographic Society förderte über vier Jahre hinweg dieses interdisziplinäre Projekt. »Nur durch die enge Zusammenarbeit von Archäologie und Naturwissenschaften ist es möglich, eine eindeutige Antwort auf die Frage zu bekommen, ob der kulturelle Wandel während des Neolithikums in Europa durch wandernde Bauernpopulationen oder durch einen Ideentransfer zwischen lokal ansässigen Bevölkerungsgruppen ausgelöst wurde«, sagte Professor Kurt W. Alt, Leiter der Arbeitsgruppe Bioarchäometrie am Institut für Anthropologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz heute in Halle. »Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat das Methodenspektrum enorm erweitert, so dass es uns heute möglich ist, nicht nur die materiellen Hinterlassenschaften, sondern die Individuen selbst anhand biologischer Marker wie DNA und stabiler Isotope direkt zu analysieren. Diese Daten tragen wesentlich zu Fragen der Herkunft, Verwandtschaft, Mobilität oder Ernährung prähistorischer Gesellschaften bei, die uns durch eine rein archäologische Forschung verborgen blieben.«
Die Forschergruppe extrahierte alte DNA aus Knochen und Zähnen von 364 prähistorischen Individuen und analysierte Bereiche der mitochondrialen DNA, die von der Mutter auf deren Nachkommen vererbt wird und somit die Rekonstruktion der mütterlichen Abstammungslinien erlaubt. Zeitlich umfassen die generierten Daten eine Spanne von etwa 4.000 Jahren - von der Einführung der sesshaften Lebensweise durch die ersten Bauern der Linienbandkeramikkultur im 6. Jt. v. Chr. bis zur Entwicklung frühbronzezeitlicher Gesellschaften im 2. Jt. v. Chr. »Das ist die bislang größte und detailreichste genetische Studie zur Besiedelungsgeschichte Europas« erläuterte Guido Brandt, ebenfalls vom Institut für Anthropologie in Mainz. »Indem wir auf diese eng umgrenzte, aber für die prähistorische Forschung sehr wichtige Region fokussierten, waren wir in der Lage eine lückenlose genetische Chronologie zu erstellen und genetische Umbrüche zwischen 5.500 und 1.500 v. Chr. direkt nachzuvollziehen.«
Die genetischen Ergebnisse zeigen, dass während des Neolithikums in Zentraleuropa vier wesentliche Migrationsereignisse stattgefunden haben. Der Wandel von der jagenden und sammelnden Lebensweise paläolithischer und mesolithischer Gesellschaften zur sesshaften und produzierenden Subsistenzwirtschaft des Neolithikums war mit einem ersten deutlichen Bevölkerungsbruch verbunden. Das Neolithikum, das mit der Etablierung der Landwirtschaft, der Domestikation von Tieren und Pflanzen, der Errichtung dauerhafter Siedlungen, der Verwendung von Keramik und verbesserten Steinwerkzeugen sowie der Anwendung komplexer ritueller Praktiken und Bestattungssitten einherging, entwickelte sich um 10.000 v. Chr. im Nahen Osten und erreichte um 5.500 v. Chr. mit der Linearbandkeramischen Kultur Zentraleuropa. Die eingewanderten Bauern ersetzten große Teile der bis dato ansässigen Jäger-Sammler-Bevölkerung. Dieser ersten Neolithisierungswelle folgte eine etwa 2.500 Jahre andauernde Phase genetischer Stabilität, in der sich die genetische Zusammensetzung kaum veränderte.
Die späteren Phasen des Neolithikums waren dagegen durch mehrere dynamische, aufeinander folgende Bevölkerungsverschiebungen gekennzeichnet, die mit der Ausbreitung der Trichterbecherkultur aus Nordeuropa, der Schnurkeramischen Kultur aus Osteuropa und der Glockenbecher-Kultur aus Westeuropa verbunden waren. »Dieses genetische Profil durch die Zeit hat eine enorme Fülle an Informationen über die genetische Geschichte der heutigen Europäer hervorgebracht«, führte Guido Brandt aus. »Nachdem das Bauerntum in Europa etabliert war und alle siedlungsgünstigen Territorien bevölkert waren, folgte eine lange Zeit der Stasis. Erst als ökonomische Faktoren wie die Verfügbarkeit von Metallen oder die Produktion landwirtschaftlicher Sekundärerzeugnisse an Bedeutung gewannen, kamen instabilere Zeiten auf, in denen plötzliche genetische Umbrüche erkennbar sind. Während die genetische Signatur der ersten Bauern in dieser Zeit immer weiter ausgedünnt wird, kommen entweder neue genetische Linien hinzu oder die bekannten Jäger-Sammler Linien erfahren eine überraschende Rückkehr.«
»Es ist interessant, dass die Brüche in der genetischen Zusammensetzung direkt mit Veränderungen in der materiellen Kultur übereinstimmen, die wir aus der archäologischen Forschung kennen« ergänzt Dr. Susanne Friederich vom Landesmuseum für Vorgeschichte in Sachsen-Anhalt. »Dass sich Populationswechsel zeigen, wenn gesamteuropäische Kulturphänomene wie Schnurkeramik und Glockenbecher expandieren, ist faszinierend und bestätigt ausgedehnte Interaktionen beider Kulturen über sehr große Distanzen.«
Während frühere Untersuchungen die genetische Diversität heutiger Europäer nicht allein durch mesolithische Jäger-Sammer oder frühe bäuerliche Bevölkerungen erklären konnten, zeigt diese Studie auf, dass die späteren Migrationsereignisse deutlich zur genetischen Vielfalt Europas beigetragen haben. Die Forschungsergebnisse verdeutlichen, dass die Formierung rezenter genetischer Variabilität ein komplexer Prozess gewesen ist und nicht allein durch eine simple Vermischung von lokalen Jäger-Sammlern und migrierenden Bauern aus dem Nahen Osten erklärt werden kann. Erst durch die Ereignisse im Spätneolithikum wurde Schicht für Schicht das Fundament für den rezenten Genpool gelegt. Seit dieser Zeit ist der Genpool der europäischen Bevölkerung weitgehend unverändert geblieben.
»Keiner dieser dynamischen Populationswechsel hätte allein durch rezente genetische Daten aufgedeckt werden können« verdeutlichte Professor Alt. »Unsere Studie war als integrative Forschung erfolgreich, wobei die Analyse alter DNA mit archäologischer Forschung kombiniert wurde, um Fragen nach der menschlichen Bevölkerungsgeschichte und dem Wandel von Kulturen zu rekonstruieren. Wir hoffen durch weitere, laufende Projekte in anderen Regionen Europas bald ähnlich fundierte Ergebnisse zur Besiedelungsgeschichte Europas vorlegen zu können.«
Publikation
Guido Brandt et al.
Ancient DNA Reveals Key Stages in the Formation of Central European Mitochondrial Genetic Diversity
Science vol. 342 no. 6155 pp. 257-261, 11.10.2013
DOI: 10.1126/science.1241844
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