Biologische und soziale Strukturen menschlicher Gesellschaften erforschen
Verwandtschaftliche und soziale Verbindungen zwischen Menschen prähistorischer Gesellschaften konnten bisher nur indirekt untersucht werden. Jüngste Fortschritte in der Archäogenetik machen es jedoch möglich, Genomdaten aus dieser Zeit zu gewinnen, oft sogar von fast allen Personen, die an einem archäologischen Fundplatz bestattet wurden. So können zum Beispiel die genetischen Beziehungen innerhalb eines Bestattungsortes umfassend untersucht werden. Durch die Bestimmung der biologischen Verwandtschaftsgrade oder den Nachweis von Nicht-Verwandtschaft können auch soziale Beziehungen abgeleitet werden, und damit wertvolle, umfassende Einblicke in die sozialen und organisatorischen Strukturen prähistorischer Gesellschaften gewonnen werden.
»Wir können die gemeinsame Abstammung von Individuen bestimmen und mit modernsten Analysemethoden biologische Verwandtschaft bis zum zehnten Grad abschätzen«, erklärt Wolfgang Haak, Forschungsgruppenleiter in der Abteilung Archäogenetik. »So konnten wir entfernte Verwandtschaften von Menschen aus verschiedenen Orten und manchmal sogar aus verschiedenen Regionen nachweisen.« In den bereits publizierten Genomdaten aus europäischen Fundorten finden sich viele solcher Verwandtschaftsbeziehungen, und die Wahrscheinlichkeit, weitere zu finden, steigt mit der Zahl der untersuchten Individuen immens. Durch die Integration von archäologischen, anthropologischen, Isotopen- und anderen kontextbezogenen Daten kommen sich Archäologie und Genetik auch erstmals in vergleichbarem Detailreichtum näher. »Wenn wir Verwandtschaftsbeziehungen über geografische Distanzen hinweg darstellen, können wir erfahren, wie die Menschen damals interagierten, sich vernetzten und letztlich ihre Gemeinschaften organisiert waren.«
Das Projekt ROAMANCE hat sich zum Ziel gesetzt, die Datendichte für das neolithische und bronzezeitliche Europa maßgeblich zu erhöhen. Zu diesem Zweck wird die schon lange bestehende enge Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt ausgebaut. Rund 600 Proben von bedeutenden Fundorten des 3. Jahrtausends vor unserer Zeit, wie dem Ringheiligtum Pömmelte und den endneolithischen Gräberfeldern im Braunkohletagebau Profen, sollen untersucht werden. Zudem werden neue, gut kontextualisierte Fundstätten und Regionen hinzugefügt, um auf der Grundlage quantifizierbarer und statistisch robuster Messungen detaillierte Karten von Kontakten, Handel und Austausch zu erstellen. »Dieser einzigartige Referenzdatensatz wird es uns ermöglichen, theoretische Rahmenbedingungen und Verwandtschaftsmodelle aus ethnografischen Studien mit aktuellsten Modellierungsansätzen zu untersuchen und neue Erkenntnisse über die biologische sowie soziale Struktur und Organisation menschlicher Gesellschaften zu gewinnen«, so Projektleiter Haak.
Wolfgang Haak promovierte 2006 im Fach Physische Anthropologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach seiner Promotion arbeitete er als Postdoc am Australian Centre for Ancient DNA an der University of Adelaide in Australien. Seit 2015 ist er Forschungsgruppenleiter in der Abteilung für Archäogenetik.
Das ERC Advanced Grant Programm richtet sich an etablierte Spitzenforscherinnen und -forscher aller Nationalitäten mit einer herausragenden wissenschaftlichen Laufbahn, die neue Forschungsfelder erschließen möchten.
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