Archäologische Funde aus der NS-Diktatur bedeutsam für Erinnerungskultur
Ein Löffel mit einer Gravur am Stil. Er ist dreckig, doch die Buchstaben sind auch nach fast 80 Jahren im Boden noch gut zu erkennen: »יוֹסףֵ« - der Name Josef in hebräischen Schriftzeichen. Gefunden wurde der Löffel in einer Grube voller Gegenstände auf dem Gelände der Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz. Etwas mehr als 100 Kilometer Luftlinie entfernt stießen Archäologen in den Trümmern eines Wohnhauses am Obersalzberg, auf ehemaligem Gelände des sogenannten »Führersperrgebietes«, auf einen Kamm. »Rhenatin« steht darauf, der Eigenname eines Kunststoffs, der in den 1940er- Jahren angeboten wurde. Wer hat sich mit diesem Kamm gekämmt? Bislang ist das nicht geklärt.
Die beiden Objekte sind nur zwei Beispiele aus einer Vielzahl archäologischer Funde aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Sie tragen dazu bei, nicht nur den Alltag der Menschen zu der Zeit in Bayern und Österreich besser zu verstehen, sondern vor allem den Opfern, die in Lagern und Tötungsanstalten umgebracht wurden, ein Stück weit ihre Würde zurückzugeben. Grundsätze, wie mit Funden und sogenannten Massenfunden aus der NS-Zeit umgegangen werden soll, haben Archäologinnen und Archäologen des Bundesdenkmalamtes in Wien (BDA), des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege in München (BLfD) und der Universität Wien (Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie) im vergangenen Jahr erarbeitet. Das gemeinsame Positionspapier »Zum Umgang mit materiellen Zeugnissen aus der Zeit der NS-Diktatur in Bodendenkmalpflege und Archäologie« wurde nun bei einem Pressetermin in der Dokumentation Obersalzberg vorgestellt.
»Da kaum noch Zeitzeugen leben, gewinnen archäologische Funde als materielle Zeugen der Geschichte eine immer größere Bedeutung, um die Lebenswirklichkeit von Opfern und Tätern der NS-Zeit nachvollziehbar zu machen«, sagt Prof. Dipl.-Ing. Architekt Mathias Pfeil, Generalkonservator am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege (BLfD).
Im Papier betonen die Experten und Expertinnen die Notwendigkeit, Bodendenkmäler aus der NS-Zeit zu erhalten, zu erfassen, zu dokumentieren und zu erforschen. Sie bekräftigen darin, dass die erhaltenen Strukturen und Funde von großer historischer Bedeutung sind und wie wichtig archäologische Methoden sind, damit diese Zeugnisse für die Nachwelt überliefert werden können. Mithilfe von Fundmaterial aus der Tötungsanstalt Schloss Hartheim und vom Obersalzberg unterstrichen die Vertreterinnen und Vertreter der Behörden ihre Botschaft. Diese Funde geben eindrücklich Aufschluss darüber, welchen Besitz höherrangige SS-Offiziere und ihre Bediensteten im Gegensatz zu den vom Nazi-Regime verfolgten und ermordeten Menschen hatten.
Die Tötungsanstalt Schloss Hartheim
Schloss Hartheim, in der Nähe von Linz in Oberösterreich gelegen, war von 1940 bis 1944 eine der sechs Tötungsanstalten, in denen die Nationalsozialisten systematische Krankenmorde verübten. In dem Renaissanceschloss bei Alkoven wurden innerhalb von wenigen Jahren nahezu 30.000 Menschen durch Kohlenmonoxid in Gaskammern getötet. Darunter waren Menschen, die nach nationalsozialistischer Ideologie psychisch erkrankt waren, körperliche Behinderungen oder Krankheiten hatten, aber auch schwache und ausgebeutete Häftlinge aus den Konzentrationslagern auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches.
Seit 2003 sind die Räume, in denen die Verbrechen stattfanden, Teil des Lern- und Gedenkortes Schloss Hartheim. Die Umbauarbeiten des Schlosses zur Gedenkstätte um die Jahrtausendwende sollten zwar baudenkmalpflegerisch, jedoch nicht archäologisch begleitet werden. Nachdem menschliche Überreste auf der Baustelle entdeckt wurden, folgten von 2001 bis 2002 archäologische Untersuchungen, die als Beginn der NS-zeitlichen archäologischen Forschungen in Österreich gelten. In insgesamt acht Gruben waren sowohl persönliche Gegenstände von Opfern als auch die Asche der Ermordeten während der Demontage der Gaskammer 1944/45 in großen Mengen vergraben worden, um die Spuren der Tötungsanstalt zu verwischen. Ein Teil einer Grube konnte im Block geborgen werden und ist heute in der Gedenkstätte Schloss Hartheim ausgestellt.
»Das österreichische Bundesdenkmalamt legt sein Augenmerk seit vielen Jahren auf die Erhaltung und würdevolle Vermittlung von NS-Opferorten. Das gemeinsam erstellte Positionspapier macht nun die Verpflichtung von Denkmalpflege und Forschung gegenüber den Zeugnissen des NS-Terrors in besonderer Weise sichtbar«, sagt Präsident Dr. Christoph Bazil, Präsident des Bundesdenkmalamtes (BDA).
Der Obersalzberg
Die 1930er-Jahre bedeuteten einen brachialen Einschnitt in die bauliche Gestaltung der bäuerlich geprägten Landschaft rund um den Obersalzberg im Berchtesgadener Land. Adolf Hitler hatte am Obersalzberg einen Wohnsitz, zwischen 1933 und 1945 befand sich hier das neben Berlin wichtigste Machtzentrum der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In kurzer Zeit entstanden Anwesen für Adolf Hitler sowie für weitere NSDAP-Funktionäre, darunter Martin Bormann und Hermann Göring. Darüber hinaus wurde ein komplexes System aus Verwaltungsgebäuden, militärischen Anlagen, Wohnsiedlungen für das Personal sowie Bunkeranlagen errichtet. Die Anlagen wurden während eines Luftangriffes der Alliierten am 25. April 1945 stark zerstört und ab 1951 teilweise abgebrochen. Im Bereich der ehemaligen Siedlung für Bedienstete wurde ein Haus bei der Bombardierung 1945 vollständig zerstört. Das Luftwarnsystem war zu diesem Zeitpunkt ausgefallen, daher flüchteten die Bewohner offenbar überstürzt. So stellte es sich für die Archäologen dar, die im Rahmen eines Neubaus an dieser Stelle 2020 das Gelände untersuchten und auf die Hinterlassenschaften der Bewohner stießen. Die aufgefundenen Objekte im Bereich der ehemaligen Küche, der Badezimmer und des verschütteten Kellers geben tiefe Einblicke in die Lebenssituation in einem hermetisch abgeriegelten Areal.
Archäologie und NS-Zeit
Nach 1945 waren Orte mit einem Bezug zum Zweiten Weltkrieg oder den Verbrechen des Naziregimes wie die vielen Zwangslager (Konzentrationslager und deren Außenlager, Zwangsarbeitslager und Kriegsgefangenenlager) zum Teil aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt worden. Archäologische Dokumentationen von Zwangslagern aus der NS-Diktatur werden seit Anfang der 1990er in Deutschland vorgenommen, aber auch in Polen, Österreich, Frankreich und den Niederlanden liegen zahlreiche Ergebnisse aus Ausgrabungen vor, mit deren Hilfe die materiellen Spuren des nationalsozialistischen Terrors dokumentiert werden können. Die Zunahme von Ausgrabungen in Bayern lässt sich anhand der im »Archäologischen Jahr in Bayern« veröffentlichten Beiträge, die sich mit im Boden befindlichen Hinterlassenschaften der NS-Zeit befassen, nachvollziehen: Von 1980 bis 2000 wurde kein einziger Artikel zu diesem Thema publiziert. Zwischen 2001 und 2009 erschienen zwei Beiträge, und von 2010 bis 2021 wurden bereits zehn Aufsätze veröffentlicht.
»Auch in Zeiten der vielfältigen Überlieferungen durch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und von schriftlichen und bildlichen Dokumenten der jüngeren Vergangenheit besitzen Objekte ein zusätzliches hohes Potential, um etwa Strukturen von Macht und Terror der nationalsozialistischen Diktatur deutlich werden zu lassen«, sagt Prof. Dr. Claudia Theune von der Universität Wien (Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie).
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