Archäologen entdecken vergessene Sprache
In Ziyaret Tepe am Ufer des Tigris im Südosten der Türkei werden seit 1997 umfangreiche archäologische Ausgrabungen durchgeführt. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es sich bei dem Ort wohl um die assyrische Grenzstadt Tušhan handelt. Überreste eines Monumentalbaus interpretieren die Wissenschaftler als Gouverneurspalast, der unter dem assyrischen König Assurbanipal II. (883 – 859 v. Chr.) errichtetet wurde.
Der Palast fiel um 700 v. Chr. einem Brand zum Opfer. Dieses Feuer sorgte auch dafür, dass ein Zeugnis einer bisher unbekannten Sprache der Nachwelt überliefert wurde. Bei den Ausgrabungen in einem Bereich, der als Thronsaal gedient haben könnte, fand der Mainzer Archäologe Dr. Dirk Wicke ein Stück gebrannten Lehms mit einem Keilschrifttext mit einer Liste weiblicher Eigennamen, die Philologen keiner bisher bekannten Sprachfamilie zuordnen können.
Dr. John MacGinnis vom McDonald Institute for Archaeological Research der University of Cambridge legte in der April-Ausgabe der Fachzeitschrift Journal Of Near Eastern Studies den Bericht über seine Untersuchungen des Tontafeltextes vor: »Insgesamt sind etwa 60 Namen erhalten«, sagte MacGinnis. »Ein oder zwei sind tatsächlich assyrische Namen und einige weitere mögen anderen bekannten Sprachen dieser Zeit zuzuordnen sein, wie etwa dem Luwischen oder Hurritischen, aber die große Mehrheit gehört zu einer bisher nicht identifizierten Sprache.«
Bei der Entzifferung des Keilschrifttextes konnte MacGinnis insgesamt 144 Namen identifizieren, von denen 59 noch vollständig lesbar sind. Nur 15 davon sind Sprachen zuzuordnen, die den Historikern bisher bekannt waren. Für die sprachliche Herkunft der restlichen Namen kommen nicht viele Kandidaten in Frage. In der Gegend von Tušhan wurde vor Ankunft der Assyrer »schubrisch« gesprochen. Dabei handelt es sich um einen Dialekt des Hurritischen, mit dem die Namen nicht in Verbindung zu bringen sind. Ebenso unwahrscheinlich ist für MacGinnis eine Verbindung zur Sprache des altorientalischen Volkes der Muschki, das gegen Ende des 8. vorchristlichen Jahrhunderts in diese Gegend einwanderte. Denn die Muschki wären seiner Ansicht nach nur dann in Texten der assyrischen Administration aufgetaucht, wenn Sie diese infiltriert hätten oder aber als Gefangene. Für keine dieser Möglichkeiten gibt es jedoch Anhaltspunkte.
Am wahrscheinlichsten erscheint dem Altorientalisten aus Cambridge daher die Theorie, dass die Namen auf eine ursprünglich im Zagros-Gebirge beheimatete Sprache zurückgehen. Dieses Gebiet war im 9. Jh. v. Chr. von den Assyrern erobert worden. Zu dieser Zeit war die Zwangsumsiedlung eine weit verbreitete Praxis im Assyrischen Reich. »Dieses Vorgehen half den Assyrern, ihre Macht zu konsolidieren, indem sie Kontrolle der etablierten Eliten in neu eroberten Gebieten aufbrachen,« sagte MacGinnis. »Wenn die Menschen an einen anderen Ort deportiert wurden, war ihr Wohlergehen dort komplett abhängig von der assyrischen Verwaltung.”
Obwohl den Historikern schon länger bekannt ist, dass das Zagros-Gebirge in einer von den Assyrern eroberten Region lag, bleibt es bis heute die einzige Gegend unter assyrischer Herrschaft, der keine bekannte Sprache zugeordnet werden kann. Daher würde die Tafel aus dem Brandschutt des Palastes von Tušhan helfen, einen weißen Fleck auf der Verbreitungskarte altorientalischer Sprachen zu füllen, wenn die Theorie von MacGinnis zutrifft.
»Wenn die Theorie stimmt, dann gäbe es die Möglichkeit, das Bild des ersten multi-ethnischen Imperiums der Welt zur vervollständigen. Wir wissen aus anderen Texten, dass die Assyrer Völker in dieser Region unterwarfen. Jetzt wissen wir, dass es eine andere Sprache gibt, die möglicherweise von dort stammt, und dass womöglich weitere Nachweise für ihre Existenz auf ihre Entdeckung warten«, so MacGinnis weiter.
Die Tontafel wird gegenwärtig im türkischen Diyarbakir aufbewahrt, wo sie nach Möglichkeit auch der Öffentlichkeit präsentiert werden soll.
Publikation
John MacGinnis, Evidence for a Peripheral Language in a Neo-Assyrian Tablet from the Governor’s Palace in Tušhan. Journal of Near Eastern Studies, vol. 71, No. 1, April 2012, pp. 13-20
DOI: 10.1086/664450
http://www.jstor.org/stable/10.1086/664450
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