Mitte des 3. Jahrhunderts geriet das mächtige Römische Reich ins Wanken: «Barbaren» gelangen erstmals Angriffe auf das Kernland; im Jahr 251 wurde gar der römische Kaiser Decius auf dem Schlachtfeld getötet. Dem klassischen Philologen Gunther Martin von der Universität Bern und seiner Wiener Kollegin Jana Grusková ist es nun gelungen, einen nahezu unsichtbaren Text aus jenen Tagen zu entziffern. Er verbarg sich auf einer mittelalterlichen Handschrift und schildert Einfälle der Goten in den einst zum römischen Reich gehörenden Balkan.
Der Text bringt Licht in eine turbulente, bislang aber schlecht dokumentierte Epoche der Antike. «Er wird eine bedeutende Rolle in der Erforschung des 3. Jahrhunderts einnehmen», sagt Gunther Martin vom Berner Institut für Klassische Philologie. Dexipp, der mutmassliche Autor, gilt nämlich als der bedeutendste Historiker jener Zeit. Doch sein Werk zu den damaligen Gotenkriegen ist verlorengegangen; nur Auszüge sind erhalten geblieben. Die neuentdeckten Fragmente sind laut Martin die ersten, die wohl direkt aus einer Gesamtausgabe des historischen Textes stammen
Der auf Griechisch geschriebene Bericht Dexipps verbarg sich in einem kostbaren Kodex in der Österreichischen Nationalbibliothek. Jana Grusková entdeckte darin mehrere Blätter mit Texten aus dem 13. Jahrhundert, die über die ursprünglichen, im 11. Jahrhundert zu Pergament gebrachten Zeilen geschrieben worden waren. Das war ein übliches «Recycling»-Verfahren, denn Pergament war teuer.
«Den unteren Text hatte man für die Wiederverwendung des Pergaments abgeschabt, er war daher mit bloßem Auge kaum sichtbar», erläutert Gunther Martin. Ein Technikerteam aus den USA bestrahlte das Pergament mit Licht verschiedener Wellenlängen und machte den ursprünglichen Text so zu rund 60 Prozent wieder lesbar.
In einem der Fragmente wird beschrieben, wie sich Kaiser Decius nach einer verheerenden Niederlage zum Gegenangriff auf die Goten rüstet, die in Thrakien eingefallen sind und die Stadt Philippopolis (das heutige Plovdiv in Bulgarien) eingenommen haben. Erwähnt wird dabei ein Goten-Fürst namens Ostrogotha, der laut bisher bekannten Quellen zu dieser Zeit gar nicht gelebt haben sollte. Ein weiteres Fragment berichtet von Männern, die aus allen Teilen Griechenlands zum strategisch wichtigen Thermopylen-Pass strömen um einen weiteren «Barbaren»-Angriff abzuwehren. In der Ansprache an die Truppen zieht ein römischer Beamter explizit Parallelen zur legendären Schlacht bei den Thermopylen um 480 vor Christus zwischen Griechen und Persern.
Der Neufund, der nun publiziert wurde, liefert somit auch wertvolle Hinweise auf die politischen Strukturen und die Geistesgeschichte der damaligen Zeit, wie Gunther Martin sagt: «Der Text illustriert das Verhältnis zwischen römischer Zentralmacht und der Provinzialbevölkerung, das Selbstverständnis der Griechen als Nation nach Jahrhunderten römischer Herrschaft, aber auch die inneren Strukturender gotischen Kriegergesellschaft.»
Publikation
Gunther Martin, Jana Grusková, „Dexippus Vindobonensis" (?) Ein neues Handschriftenfragment zum sog. Herulereinfall der Jahre 267/268, WIENER STUDIEN, Band 127/2014, 101 – 120, DOI:10.1553/wst127s101
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Gunther Martin, Jana Grusková, "Scythica Vindobonensia" by Dexippus(?): New Fragments on Decius' Gothic Wars, Greek, Roman, and Byzantine Studies Vol 54, No 4 (2014), S. 728 - 754
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