Zwischen 5000 und 2700 vor Christus breitete sich in Osteuropa auf dem heutigen Gebiet der Ukraine, Moldawiens und Rumäniens die sogenannte Tripolye-Kultur aus und schuf die größten bekannten Siedlungen dieser Zeit in Europa: sogenannte Megasiedlungen mit bis zu 15.000 Einwohnern, die sich über Flächen von bis zu 340 Hektar erstreckten.
Staatliche Strukturen waren zu dieser Zeit unbekannt und so wirft die Größe dieser Siedlungen viele Fragen bezüglich ihrer gesellschaftlichen Organisation auf: Wie liefen Entscheidungsprozesse ab? Gab es gesellschaftliche Unterschiede, demokratische Prozesse, Führer? Insbesondere bewegt die Wissenschaft aber die Frage, warum die Siedlungen nach nur wenigen hundert Jahren wieder verschwanden.
Eine kürzlich in der Online-Zeitschrift PLOS ONE veröffentlichte Studie nennt nun erstmals die Ursache für die kurze Lebensdauer dieser Großsiedlungen, die sich zunächst gleichzeitig mit der Urbanisierung Mesopotamiens entwickelten, dann aber zusammenbrachen. Ein ukrainisch-deutsches Forschungsteam hat die soziale Hierarchie und politische Organisation dieser vorstädtischen Gesellschaften rekonstruiert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Sonderforschungsbereiches (SFB) "TransformationsDimensionen" der Christian-Albrechts-Universität Kiel (CAU) und mehrerer ukrainischer Forschungseinrichtungen gelang es, anhand der Entwicklung sogenannter Versammlungshäuser die Veränderung von Entscheidungsebenen innerhalb der Großsiedlungen zu rekonstruieren.
Dr. Robert Hofmann, der die Studie innerhalb des SFB koordinierte, erklärt: "Während zu Beginn der Entwicklung der Großsiedlungen mindestens drei unterschiedliche Größenklassen dieser Versammlungshäuser bestehen, gibt es nach circa 300 Jahren nur noch die größten von ihnen. Offensichtlich wurden die unteren und mittleren Entscheidungsebenen aufgrund innergesellschaftlicher Spannungen ausgeschaltet. Dies führt schließlich zur Auflösung der Großsiedlungen."
Die Versammlungshäuser waren öffentliche Gebäude, die von den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Großsiedlungen genutzt und unterhalten wurden. In ihnen fanden integrative Aktivitäten statt, die das Zusammenleben einer solch großen Anzahl von Menschen überhaupt erst möglich machten. Sie wurden für rituelle Handlungen genutzt und in ihnen wurden Entscheidungen gefällt, die die ganze Kommune betrafen.
In frühen Phasen der Tripolye-Siedlungen finden sich noch kleinere Versammlungshäuser, die vermutlich einzelnen Segmenten der Gesellschaft als integrative Orte zur Entscheidungsfindung auf niedriger hierarchischer Ebene dienten. Wachsende Bevölkerungsgrößen und einsetzende Konflikte stärken die Bedeutung zentraler, die ganze Siedlung betreffender Institutionen, die auch baulich in riesigen, teils weithin sichtbaren Versammlungshäusern ihren Ausdruck finden. Dagegen verlieren die kleineren Versammlungshäuser an Bedeutung, bevor sie gänzlich verschwinden. Daraus schließen die Wissenschaftler, dass die Macht, die zunächst noch über die Gemeinschaft verteilt war, auf eine zentrale Institution überging.
"Die drastische Zentralisierung und der Wegfall demokratischer Entscheidungsstrukturen auf unterer und mittlerer Ebene waren der Hauptgrund für den Kollaps der Tripolye-Großsiedlungen. Andere Gründe wie die Knappheit an Holz oder die Erschöpfung der Böden können wir ausschließen. Bis zu 10.000 Menschen konnten nicht durch nur eine zentrale Institution gemanagt werden", so Hofmann. Dies hat vermutlich dazu geführt, dass sich die vorstädtischen Strukturen wieder auflösten.
Publikation
Governing Tripolye: Integrative architecture in Tripolye settlements
PLoS ONE. 25.9.2019
DOI: 10.1371/journal.pone.0222243