Zahnanalyse ermöglicht neue Erkenntnisse zur Bevölkerungsentwicklung in Südwestdeutschland von der Steinzeit bis zur Eisenzeit

Das Landesamt für Denkmalpflege, Senckenberg und die Eberhard Karls Universität Tübingen haben eine neue Methode zur menschlichen Zahnanalyse getestet, um umfassendere Einblicke in die Populationsgeschichte Südwestdeutschlands von der ausgehenden Steinzeit bis zur frühen Eisenzeit zu gewinnen. Die Studie konzentriert sich auf die Untersuchung von Zähnen in menschlichen Bestattungen.

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Schnurkeramische Bestattung, Heilbronn
Bestattungen des Endneolithikums und der Frühbronzezeit, wie dieses vor wenigen Jahren in Heilbronn entdeckte Hockergrab der Schnurkeramik, standen im Fokus der Biodistanzanalysen. Bild: © Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart

Mit der neuen Analysemethode namens FLEXDIST können genetisch bedingte Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Individuen anhand spezifischer Zahnmerkmale ermittelt werden. Diese Merkmale, wie beispielsweise die Anzahl und Größe der Höcker von Backenzähnen, sind vererbbar und liefern Aufschluss über die Biodistanz, also die Ähnlichkeit zwischen Individuen. Die Analyse der Zähne kann somit mit genetischen Untersuchungen verglichen werden.

Im Fokus der Studie stehen vier Gräberfelder aus dem Neckar- und Taubergebiet, die sich auf die Zeit zwischen 2800 und 1600 v. Chr. erstrecken. Dabei handelt es sich um die beiden größten Nekropolen der Neckargruppe, einer bisher wenig erforschten Regionalgruppe der Frühbronzezeit in Südwestdeutschland. Frühere genetische und Isotopenuntersuchungen in verschiedenen Teilen Europas haben Hinweise auf Einwanderungen aus den südrussischen Steppengebieten um 3000 v. Chr. geliefert und auf eine hohe Bevölkerungsdynamik während des Endneolithikums und der Frühbronzezeit hingedeutet. Die neue Methode zeigt nun eine ähnliche Bevölkerungsentwicklung von der Stein- zur Bronzezeit in einem Teil Südwestdeutschlands, der bisher wenig erforscht wurde. Die Ergebnisse der Studie belegen eine generelle Kontinuität der damaligen Bevölkerung, jedoch nahm die biologische Variabilität im Verlauf des 3. bis frühen 2. Jahrtausends v. Chr. ab. Dies ist vermutlich auf die Assimilation von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichem Hintergrund, sowohl von altansässigen Neolithikern als auch von Menschen mit Steppenherkunft, zurückzuführen. Für die frühe Eisenzeit zwischen 750 und 450 v. Chr. zeigt sich wieder eine deutlich größere Diversität, was auf vermehrte Bevölkerungsbewegungen zu dieser Zeit oder ab etwa der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends hinweist. Zudem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass es eine erhöhte Mobilität einzelner Individuen vor dem Erreichen des Erwachsenenalters gab, möglicherweise aufgrund von Ziehkindern oder dem Austausch von Partnern.

Die neu entwickelte Methode, FLEXDIST, ist in der Lage, mit hochkomplexen und fragmentierten Datensätzen umzugehen. Sie ist daher nicht nur für die Paläoanthropologie relevant, sondern auch für zahlreiche andere Bereiche der archäologischen Forschung, wie beispielsweise die Archäozoologie oder Steinartefakt-Analysen, betont Hannes Rathmann (SHEP), Erstautor der Studie.

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden nun im Journal of Archaeological Science veröffentlicht.

Stephanie Lismann bei der Merkmalsaufnahme
Stephanie Lismann, zweite Hauptautorin der Studie, bei der Merkmalsaufnahme. Foto: Universität Tübingen
Frühbronzezeitlicher Oberkiefer aus Ammerbuch-Reusten
Die spezifische Morphologie der Zähne, wie erkennbar am Oberkiefer eines Individuums der Frühbronzezeit von Ammerbuch-Reusten, gestattet Rückschlüsse auf die biologische Ähnlichkeit der Bestatteten. Foto: S. Lismann, Universität Tübingen
Publikation

H. Rathmann, S. Lismann, M. Francken, A. Spatzier

Estimating inter-individual Mahalanobis distances from mixed incomplete high-dimensional data: Application to human skeletal remains from 3rd to 1st millennia BC Southwest Germany

Journal of Archaeological Science 156, 2023, 105802. 2023
DOI: 10.1016/j.jas.2023.105802