Sie schreiben in einer Pressemitteilung vom heutigen Tag:
Eine vergangene Woche in den Medien vorgestellte Theorie, nach der Ötzi, der Mann aus dem Eis, nicht am Gletscher starb, sondern erst später zur Bestattung dorthin gebracht wurde, wird von der Iceman‐Forschung abgelehnt.
Der Archäologe Alessandro Vanzetti von der Universität „La Sapienza“ in Rom und seine Mitautoren rekonstruieren in seinem Artikel „The Iceman as a burial“ (erschienen in „Antiquity“ 84/2010) die räumliche Lage des Mannes aus dem Eis an seiner Fundstelle am Tisenjoch (Südtirol/Italien). Daraus und aus botanischen Untersuchungen zieht er den Schluss, dass Ötzi nicht am Unfallort umkam, sondern im Frühjahr innerhalb seiner Tal‐Gemeinschaft verstorben war und erst im September auf das Tisenjoch gebracht und dort bestattet wurde.
Vanzettis Szenario, das auch in der Vergangenheit schon mehrfach diskutiert wurde, weist in der Argumentationskette und in der archäologischen Verortung grundlegende Schwächen auf, so dass seine Behauptung von den meisten Iceman‐Forschern nicht nachvollzogen werden kann. Sie sehen Pollen und das Verteilungsmuster der Beifunde nicht dazu geeignet, die Todesursache, eventuelle Körperveränderungen nach dem Tode oder Bestattungsriten zu belegen.
Aus archäologischer Sicht ist zu bemerken, dass die Auffindung einer Leiche aus der Kupferzeit auf dem Tisenjoch einmalig ist. Es gibt zwar rituelle Bestattungen auf Bergen oder in Höhenlagen bei südamerikanischen Kulturen, doch sind im Alpenraum keine vergleichbaren Fälle bekannt. Im Gegenteil, während der Kupferzeit hat es hier reguläre Bestattungsorte in Siedlungsnähe gegeben. Selbst wenn sehr komplexe Bestattungsriten (Einzel‐, Kollektivgräber, Primär‐, Sekundärbestattung, Körper‐, Brandbestattung) vorlagen, gibt es keine Hinweise auf so siedlungsferne Bestattungsorte.
Zu Vanzettis ethnohistorischer Argumentation, dass in Tirol Menschen nach ihrem Tod aufbewahrt und erst nach der Schneeschmelze über die Jöcher in Friedhöfe getragen wurden, erinnern die Archäologen daran, dass dies mit dem System der christlichen Friedhofskirchen und den Grundherrschaftsstrukturen des Mittelalters zu erklären ist. In diesen Fällen wurden die Toten sobald als möglich auf ihrem kirchenrechtlich zugehörigen Friedhof bestattet. Ziel war es dabei allerdings, die Toten zum Friedhof im Dorf zu bringen und nicht vom Dorf auf den Berg. Lediglich für das Aufbewahren von Leichen gibt es somit eine Analogie aus christlichen Zeiten. Für die Ötzi‐Zeit (Kupferzeit) kann die Transport Analogie nur als Spekulation gelten.
Wäre der Mann aus dem Eis, wie in Vanzettis Artikel beschrieben, im April in einer Tallage gestorben und erst im September auf den Berg gebracht worden, müssten auch trotz Mumifizierungsversuchen stärkere Dekompositionsprozesse sowie Insektenbefall nachweisbar sein. Da diese fehlen, geht man davon aus, dass die Leiche zwar viel von seiner Körperfeuchtigkeit verloren haben muss, aber nach kürzester Zeit eingefroren und von einer Schnee‐ oder Eisdecke geschützt wurde. Diese spezielle Situation führte zu der weltweit einzigartigen Mumifizierung des Mannes aus dem Eis, bei der Feuchtigkeit im Gewebe erhalten geblieben ist. Seine Feuchtkonservierung beruht auf einem Gefriertrocknungsprozess und ist nicht mit einer Trockenmumifizierung zu erklären, wie Vanzetti mutmaßt.
Wichtigster forensischer Beleg dafür, dass der Verlust von Körperfeuchtigkeit sich nicht anderswo als an der Fundstelle hat vollziehen können, ist die Position des linken Armes und der ununterbrochene Blutstrom von der verletzten Arterie durch den Schusskanal hinaus bis an die Haut. Dieser Befund belegt zweifelsfrei, dass die Lage des Armes exakt die Todeslage ist und noch bei funktionierendem Kreislauf zustande gekommen ist. Bei Nachlassen der Leichenstarre wäre es ein Leichtes gewesen, den Arm an den Körper anzulegen. Vanzetti behauptet dagegen, dass der Körper intakt auf dem Gletscher bestattet wurde und erst während der Gletscherschmelze den Hang hinunter rutschte. Dabei habe sich der Arm in die bekannte Stellung vor der Brust gedreht. Dies ist undenkbar wenn, wie die Autoren zuvor behaupten, Ötzi schon ein paar Monate vorher gestorben war und mumifiziert wurde. Damit könnte der steife Arm gar nicht mehr in seine Position gebracht werden, ohne ihn oder die Schulter erheblich zu beschädigen. Tatsächlich befinden sich alle Gelenke des Mannes aus dem Eis in anatomisch korrekter Position. Ein Transport der intakten Mumie auf den Gletscher ist damit ausgeschlossen.
Wichtiger Bestandteil in Vanzettis Beweisführung von einer Berg‐Bestattung im Herbst sind auch Ötzis Pollenanalysen von der Universität Innsbruck, doch gibt es Ungereimtheiten im zeitlichen Ablauf des vom ihm vermuteten Bestattungsvorgangs. Nur ein Detail: Pollen‐ Analysen aus aufgetautem Eis können nicht als Beweismittel für eine Herbstbestattung herangezogen werden. Wenn nämlich die Fundgegend aufgetaut ist, was die Autoren auch annehmen, dann liegen die Pollen nicht mehr in der originalen Schichtung vor, sondern sie sind mit dem Pollengehalt aus jüngeren Schichten vermischt.
Die Argumente für eine von Vanzetti et al. vermutete Bestattung am Gletscher überzeugen deshalb sowohl von archäologischer wie aus naturwissenschaftlicher Seite nicht. Detaillierte Antworten aus Archäologie und Naturwissenschaften, die eine Expertendiskussion mit den Autoren zum Ziel haben, werden in nächster Zeit in Fachzeitschriften veröffentlicht.