Über die Mutationsrate, also die durchschnittliche Zahl der Veränderungen im Erbgut, die Kinder im Vergleich zu ihren Eltern aufweisen, datieren Wissenschaftler bestimmte Ereignisse in der Evolution. Neuere Berechnungen dieser Rate hatten den bisher angenommenen Zeitrahmen wichtiger Ereignisse in der Menschheitsgeschichte in Frage gestellt. Danach lagen Schlüsselereignisse wie die genetische Auseinanderentwicklung der modernen Menschen innerhalb und außerhalb Afrikas bis zu doppelt so lange zurück wie gedacht.
Neue Ergebnisse, die jetzt ein internationales Team unter der Leitung von Forschern der Universität Tübingen und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig präsentiert, stützen jedoch die früheren Berechnungen: Die Wissenschaftler setzen nun wieder jüngere Datierungen an.
Die Forscher haben aus mehr als zehn menschlichen Skeletten, die in einer Zeitspanne von 40.000 Jahren aus Europa und Ostasien stammten, Proben entnommen. Sie konnten das Genom der Mitochondrien, der sogenannten Kraftwerke der Zelle, rekonstruieren. Unter diesen Skeletten waren einige der ältesten bekannten anatomisch modernen Menschen außerhalb Afrikas, so die menschlichen Überreste einer Dreifachbestattung aus Dolni Vestonice in Tschechien sowie die Skelette aus dem Doppelgrab von Oberkassel bei Bonn.
Im Februar 1914 entdeckten Steinbrucharbeiter an der Rabenlay in Bonn-Oberkassel die Skelette einer etwa 20 Jahre alten Frau und eines 40 bis 45-jährigen Mannes, Reste eines Hundes, Kunstgegenstände und weitere Tierknochen eingebettet in rötlich verfärbtes Sediment. Unter dem Begriff "Doppelgrab von Oberkassel" ging der Fund später als wissenschaftliche Sensation in die Geschichte ein. Untersuchungen mit der Radiokarbon-Methode ergaben ein Rekordalter von rund 14.000 Jahren. Damit handelt es sich bei den Skeletten aus der Späteiszeit um den ältesten Fund des modernen Menschen (Homo sapiens) in Deutschland.
Die Forscher stellten anhand der mitochondrialen DNA fest, dass die Jäger und Sammler vor und nach der letzten Eiszeit in Europa in direkter Verwandtschaftslinie stehen. Daraus folgern sie, dass Europa während der letzten Eiszeit durchgängig besiedelt war. Zwei der Individuen aus Dolni Vestonice, die zusammen bestattet wurden, weisen außerdem die gleiche mitochondriale DNA auf, was eine nahe Verwandtschaft über die Mutter vermuten lässt.
Für die Berechnung der Mutationsraten über die letzten 40.000 Jahre legten die Wissenschaftler die über die Radiokarbonmethode gewonnenen Daten zum Alter der Skelette zugrunde. Sie verglichen dann die Anzahl an Mutationen, die in heutigen menschlichen Populationen vorkommen, gegenüber denen aus den untersuchten Skeletten. Nach der neu errechneten Mutationsrate lebte der letzte gemeinsame Vorfahre aller menschlichen mitochondrialen DNA-Linien vor etwa 160.000 Jahren. Anders ausgedrückt tragen alle heutigen Menschen mitochondriale DNA in sich, die von einer einzigen Frau stammt, die vor etwa 160.000 Jahren lebte.
Die Lebenszeit des letzten gemeinsamen Vorfahren von Afrikanern und Nicht-Afrikanern bestimmten die Wissenschaftler über die mitochondrialen DNA-Linien auf 62.000 bis 95.000 Jahre vor heute. Das entspricht dem frühesten Zeitpunkt, den man bisher für die Auswanderung der anatomisch modernen Menschen aus Afrika angenommen hat. Die Ergebnisse stimmen mit früheren archäologischen und anthropologischen Studienergebnissen überein. Sie sind jedoch mit den errechneten Mutationsraten aus einigen jüngeren Familienstudien nicht in Einklang zu bringen. Dort wurde die Abspaltung nicht afrikanischer Populationen von Afrikanern auf einen rund 30.000 Jahre länger zurückliegenden Zeitraum berechnet.
"Zwischen den Resultaten aus Studien an modernen Familien und unserer Studie an alter DNA ergibt sich eine deutliche Diskrepanz", sagt Johannes Krause. "Der Grund dafür könnte darin bestehen, dass in den Studien an modernen Familien Mutationen übersehen wurden, was zu einer Unterschätzung der Mutationsrate führt. Außerdem ist es möglich, dass sich die Mutationsrate innerhalb einer Generation im 21. Jahrhundert von der von uns berechneten über 2.000 Generationen in den letzten 40.000 Jahren unterscheidet." Genauere Ergebnisse könnte den Forschern zufolge die Untersuchung der DNA prähistorischer Menschen nicht nur aus den Mitochondrien, sondern aus dem Zellkern liefern.
Auf die Bestatteten aus dem Doppelgrab in Oberkassel gewähren die Auswertungen auch noch einen anderen Blick: "Wir wissen nun, dass beide nicht so eng miteinander verwandt waren, wie Geschwister es sind.", erklärt die Mitautorin der Studie Liane Giemsch vom LVR-LandesMuseum in Bonn.
Publikation
Fu et al. "A Revised Timescale for Human Evolution Based on Ancient Mitochondrial Genomes" Current Biology (2013)
http://dx.doi.org/10.1016/j.cub.2013.02.044