Bei Beginn der Ausgrabungen war kaum zu vermuten, wie viel Geschichte im Boden des Grundstücks an der Heiersstraße steckt. Doch die vor kurzem abgerissene moderne Bebauung hat die darunterliegenden Spuren der Stadtgeschichte weitgehend unberührt gelassen. Daher gelang es den Archäologinnen der Fachfirma, die Grundmauern der sogenannten Tigge freizulegen, ein Gebäude, das im Jahre 1527 gebaut wurde. Die Tigge war ein alter Gerichtssitz der Stadt Paderborn, der in mehreren Urkunden belegt ist.
Die nun ausgegrabenen Grundmauern aus dem 16. Jahrhundert zeigen, dass das Gebäude schmal war und sich nach Westen verjüngte. Im Norden zieht die Mauer unter die Straße Thisaut, so dass die exakten Maße des Hauses unklar bleiben. Im Inneren wurde ein sorgfältig verlegter Fußboden aus großen Kalksteinplatten freigelegt.
Im nördlichen Bereich war das Pflaster abgesackt. »Wir vermuten, dass sich unter dieser Stelle ein verfüllter Brunnen verbirgt«, erklärt Dr. Sveva Gai, Stadtarchäologin in Paderborn. »Der Straßenname Thi-Saut bedeutet »Wasserstelle an der Tigge«. Aber möglicherweise befindet sich hier auch ein weiterer Keller, der zu einem früheren Gebäude an dieser Stelle gehörte.«
Die Geschichte der Tigge reicht weiter in die Vergangenheit zurück. Beim Abtragen des Fußbodens haben die Archäologen darunter eine noch ältere Mauer gefunden, die im Inneren der Tigge einen Raum abgrenzte. Anhand der hier gefundenen Scherben können die Expertinnen diese Mauer in das Spätmittelalter datieren.
Im Südosten der Tigge befindet sich ein schmales Tonnengewölbe, das nur einen Meter höher liegt als der Fußboden aus dem 16. Jahrhundert. Till Lodemann von der Stadtarchäologie sagt dazu: »Das Gewölbe scheint den Eingang zu einem Keller zu bilden, der noch unter dem aktuell freigelegten Fußboden liegt. Das bedeutet, dass wir mit noch älteren Bauphasen der Tigge unter dem Pflaster rechnen können.«
»Besonders aufschlussreich sind auch die historischen Quellen, die bis ins Jahr 1304 zurückreichen«, betont Ralf Otte, Historiker und Archäologe der Grabungsfirma. »Den Dokumenten nach war an dieser Stelle schon seit dem Mittelalter ein Gerichtsplatz, der zu dem hier vor der Stadt liegenden Dorf Aspethera gehörte.« Das Dorf Aspethera wurde infolge des Baus der Stadtmauer ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in die Stadt Paderborn eingemeindet. In einer Urkunde des Jahres 1265 wird ein Ritter Ludovicus Bulemast genannt, der in Aspethera die Gerichtsbarkeit innehatte.
Die Mauern des alten Vogteigebäudes sind nicht die einzigen steinernen Zeugen der Machtverhältnisse in der mittelalterlichen Stadt, die sich auf dem Grundstück finden. Auch die Grenzmauer der Domimmunität fanden die Archäologen schon. »Es ist selten, dass so viele Elemente der Stadtentstehung auf einer Grabung zusammenfallen. Der Gerichtssitz der Tigge ist ein Kern der städtischen Selbstverwaltung. Die Domimmunitätsmauer grenzt den Rechtsbereich der bischöflichen Verwaltung dagegen ab«, so Grabungsleiter Ralf Mahytka.
Die großen Kalksteine und die Breite des Fundaments von fast zwei Metern sprechen dafür, dass sich hier eine mächtige Grenzmauer befand, die das Areal der Domimmunität abriegelte. Die Lage dieser Mauer und der lockere Boden an der Außenseite lassen annehmen, dass vor der Mauer ein Graben verlief. Die Mauer wurde zeitweise sogar durch eine Palisade ergänzt, wie die Forscher herausgefunden haben.
Ein besonderes Zeugnis der Straßenarchitektur sind mehrere übereinanderliegende Schichten von Wegepflastern, die die Ausgräber zwischen Domimmunitätsmauer und Tigge entdeckt haben. Nur an wenigen Stellen in Paderborn haben sich historische Pflaster so vollständig erhalten. Meist sind sie dem modernen Straßenbau zum Opfer gefallen. Zwischen Tigge und Domimmunitätsmauer wurde die Straße durch ein neues Gebäude Mitte des 19. Jahrhunderts verbaut und so die alten Pflaster darunter geschützt. Besonders interessant war ein Straßenpflaster aus dem 17. Jahrhundert, das auf der Seite der Domimmunität durch rötliche Flusskiesel farblich und im Material von dem Pflaster des städtischen Bereichs abgesetzt war. »Die Straße war hier wahrscheinlich zwischen weltlicher und kirchlicher Verwaltung aufgeteilt, das war auch im Straßenbild sichtbar«, vermutet Otte.
Die Grabungen sollen bald enden, wenn die nötigen Bautiefen für das auf dem Grundstück geplante Verwaltungsgebäude erreicht sind. Die darunterliegenden archäologischen Funde, die durch den geplanten Bau nicht gestört werden, bleiben unter dem Gebäude für die Zukunft erhalten.