Dieser Legende ist ein Forschungsteam der Universität Zürich und des Mediterranen Instituts für Fortgeschrittene Studien in Mallorca nachgegangen. Die Wissenschaftler haben Karobsamen auf Mallorca gesammelt und gewogen. Das Ergebnis überrascht. Das Gewicht der Karobkerne ist etwa gleich variabel wie das Gewicht von Samen anderer Pflanzen.
"Damit endete unser Interesse jedoch nicht", kommentiert Luis Santamaria vom Mallorca-Team, "wir wollten verstehen, wie der Mythos entstanden ist und wendeten uns der menschlichen Wahrnehmung zu." Die Wissenschaftler zeigten Versuchsteilnehmern jeweils zwei Samen und ließen sie mit bloßem Auge entscheiden, welcher dieser Samen leichter bzw. schwerer war. Die Probanden konnten ohne Probleme Gewichtsunterschiede von ungefähr 5 Prozent (einem Hundertstel Gramm) erkennen. Diese Fähigkeiten führte dazu, dass die Menschen Karobsamen mit starken Gewichtsunterschieden einfach aussortierten und so die hohe Zuverlässigkeit der Maßeinheit Karat erreichten.
Weitere Indizien sprechen für den Menschen als „Gleichmacher“ der Samen. Das Forschungsteam verglich vor-metrische Karatgewichte, d.h. Gewichte vor der Vereinheitlichung im Jahr 1875, aus aller Welt. Diese unterscheiden sich von Ort zu Ort, aber bezeichnenderweise liegt die Streuung bei 5 Prozent und nicht bei 25 Prozent, wie sie in einer zufälligen Auswahl von Karobsamen vorkommt. "Es scheint, als ob die Streuung von 5 Prozent die menschliche Selektionsfähigkeit widerspiegelt", meint Turnbull.
Diese Ergebnisse geben Aufschluss über die Entstehung altertümlicher Messsysteme. Nicht das aussergewöhnlich konstante Samengewicht des Johannisbrotbaumes, sondern die bemerkenswert gute Fähigkeit des Menschen, Gewichtsunterschiede zu erkennen, haben zur verlässlichen Masseinheit Karat geführt. Da der menschliche Einfluss vorher nicht erkannt wurde, wurde das "konstante" Samengewicht fälschlicherweise der natürlichen, anstatt der menschlichen Selektion zugeschrieben.