Tsunami oder Opferritus? Wie zwanzig Kelten vor 2000 Jahren ums Leben kamen
Das plötzliche Unglück gewinnt
Die Studie ist Teil einer internationalen Zusammenarbeit zwischen der Universität Bern und Eurac Research, dem Forschungsinstitut für Mumienforschung in Bozen. Ziel ist es, neue Erkenntnisse über die keltische Kultur in der Schweiz und in Norditalien zu gewinnen. Da diese vorwiegend mündlich geprägt war, stammen die meisten schriftlichen Quellen von Julius Cäsar. "Weil diese Erzählungen von einem militärischen Gegner kommen, sind sie nicht immer objektiv und vollständig", erklärt Zita Laffranchi, Postdoktorandin am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern. "Indem wir uns auf archäologische Funde konzentrieren, geben wir denjenigen Menschen eine Stimme, über die nichts in den Geschichtsbüchern steht." Mit ihrem Team führte die Wissenschaftlerin eine detaillierte bioarchäologische Untersuchung durch, um mehr über die dramatischen Geschehnisse bei der Holzbrücke von Cornaux/Les Sauges herauszufinden.
Denn es herrscht große Uneinigkeit darüber, was damals geschah. Eine These lautet, dass eine abrupte Überschwemmung oder ein Tsunami zum Einsturz der Brücke führte. Eine andere, dass es sich bei den Skeletten um Menschenopfer handelt – eine für die Kelten belegte Praxis, die häufig in Zusammenhang mit Wasser stand.
Zur Rekonstruktion der Tragödie führten die Forschenden vielfältige Analysen durch. Der gute Zustand der Fundstücke – in fünf Schädeln sind sogar noch Reste von Gehirn erhalten – spricht dafür, dass die Leichen nach dem Tod schnell unter Sedimenten begraben wurden. Vom Schädel bis zu den Beinen weisen die Skelette zudem zahlreiche Verletzungen auf, die auf starke Gewalteinwirkungen zurückgehen dürften. Im Gegensatz zu anderen europäischen Fundstätten, wo Menschenopfer nachgewiesen sind, wurden in diesem Fall keine absichtlich oder durch scharfe Gegenstände verursachten Verletzungen festgestellt. Diese Analysen stützen also die These eines Unglücks. Auch das Durcheinander von Knochen und Holzstücken weist darauf hin. Es könnte also gut sein, dass einst ein Tsunami die Brücke zum Einsturz brachte.
Vielleicht starben nicht alle gleichzeitig
Chemische Untersuchungen einzelner Knochen und Zähne gaben den Forschenden schliesslich weitere Anhaltspunkte: Mit Radiokohlenstoffdatierungen konnten sie bestimmen, wann die Personen gelebt haben. Isotopenanalysen zeigten, was sie gegessen und wo sie gelebt haben. Bei der Hälfte der Skelette wurde zudem mit paläogenetischen Verfahren die DNA entschlüsselt.
Die Resultate belegen, dass es sich um mindestens 20 Personen handelt, die keine nahen familiären Verbindungen haben: ein Mädchen, zwei weitere Kinder und 17 zumeist junge Erwachsene, davon vermutlich 15 männliche. Diese demografische Einseitigkeit mit einer Mehrheit von jungen Männern könnte auf eine Gruppe geopferter Gefangener oder Sklaven hinweisen, aber auch auf einen Konvoi von Händlern oder Soldaten. Da nicht alle Radiokohlenstoffdatierungen eindeutig ausfielen, lässt sich zudem nicht mit Sicherheit sagen, ob alle Todesfälle zur gleichen Zeit eintraten und ob sie auch wirklich mit der Zerstörung der Brücke zusammenfielen. "Bei Berücksichtigung all dieser verschiedenen Elemente lässt sich vermuten, dass sich in Cornaux ein heftiger, schneller Unfall ereignet hat", fasst Marco Milella, Forscher der Universität Bern und Co-Leiter dieses Projekts, zusammen. "Doch die Brücke hatte schon davor ein Leben. Sie könnte eine Opferstätte gewesen sein." Es sei nicht auszuschliessen, dass sich einige Leichen bereits vor dem Unfall dort befanden. "Es muss nicht zwingend nur eine der beiden Thesen zutreffen."
Das genaue Szenario der Ereignisse bei der Brücke von Cornaux/Les Sauges wird vermutlich ein Rätsel bleiben. "Bei dieser Art von Forschung untersuchen wir konkrete Personen und zeichnen ihr Leben nach. Das ist manchmal emotional", erzählt Laffranchi. "Aber im Grunde geht es darum, unser kulturelles und biologisches Erbe besser zu verstehen, und zwar auf der Ebene der ganzen Gesellschaft."
Schon damals durchmischt, mobil und zentral
Das Drei-Seen-Land (Bieler-, Murten- und Neuenburgersee) war für die Kelten von grosser Bedeutung. Dies insbesondere für die Helvetier, den grössten keltischen Volksstamm, der zwischen dem Genfer- und Bodensee lebte. Diese neue Studie, bei der erstmals paläogenomische Analysen von Keltinnen und Kelten in der Schweiz durchgeführt wurden, bestätigt die Nähe zu anderen Völkern der Eisenzeit. Die in Cornaux identifizierten Linien sind auch in den Gebieten der Britischen Inseln, der Tschechischen Republik, in Spanien und Mittelitalien zu finden. Die Isotopenanalysen wiederum zeigen, dass die untersuchten Personen teilweise wohl im Drei-Seen-Land aufgewachsen waren, teilweise aber auch im Alpenraum. Diese Funde bestätigen die Bedeutung der Region in der damaligen Epoche. Sie belegen die Vorstellung, dass bei den keltischen Volksstämmen eine hohe Mobilität und Durchmischung bestand. Unsere Vorfahren, die Helvetierinnen und Helvetier, verschanzten sich also keineswegs allein hinter ihren Bergen, sondern auch sie lebten bereits an einer Kreuzung im Herzen Europas.
Die Forschung wurde vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und von der Autonomen Provinz Bozen (Südtirol) unterstützt.
Publikation
Geographic origin, ancestry, and death circumstances at the Cornaux/Les Sauges Iron Age bridge, Switzerland
Scientific Reports. 17.6.2024
DOI: 10.1038/s41598-024-62524-y