Tiefgreifender Bevölkerungswandel am Ende der letzten Eiszeit

Genetische Analysen werfen neues Licht auf europäische Bevölkerungsgeschichte

Bis heute ist stark umstritten, wann und in wie vielen Ausbreitungswellen der moderne Mensch von Afrika ausgehend den Rest der Welt besiedelte. Einem internationalen Forschungsteam ist es nun gelungen, die DNA von 35 frühen europäischen Jägern und Sammlern aus unterschiedlichen Zeitaltern zu rekonstruieren und neue, überraschende Einblicke in die frühe Bevölkerungsentwicklung Europas zu gewinnen.

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Ausbreitung des modernen Menschen
Die Studienergebnisse lassen eine einzige, umfassende und schnelle Ausbreitung des modernen Menschen außerhalb Afrikas vor rund 55 000 Jahren vermuten. (© MPI für Menschheitsgeschichte, Jena, Grafik: Annette Günzel)

So deuten die Ergebnisse zum einen auf eine einzige, umfassende und schnelle Ausbreitungswelle des modernen Menschen außerhalb Afrikas hin, die sich gleichzeitig über Asien und Europa erstreckte. Zum anderen haben sie Hinweise dafür gefunden, dass am Ende der letzten Eiszeit, vor ca. 14 000 Jahren, ein bislang unbekannter, tiefgreifender genetischer Wandel der europäischen Bevölkerung stattfand.

Genetische Daten der frühen, modernen Menschen, die für 35.000 bis 40.000 Jahre als Jäger und Sammler in Europa lebten, sind rar und die Strukturen und die Entwicklung dieser Bevölkerungsgruppen weitgehend unerforscht. Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena und der Universität Tübingen ist es nun mit einem internationalen Forschungsteam gelungen, durch den Einsatz molekularer und bioinformatischer Techniken die mütterlicherseits vererbte mitochondriale DNA (mtDNA) von 35 frühen Jägern und Sammlern zu rekonstruieren. Das Alter der Funde liegt zwischen 35.000 und 7.000 Jahren und umspannt damit fast 30.000 Jahre europäische Urgeschichte. Die Fundorte befinden sich auf dem Gebiet von Italien, Deutschland, Belgien, Frankreich, Tschechien und Rumänien.

Die Analyse dieser alten mtDNA führte zu einem überraschenden Ergebnis: Drei Individuen aus der Zeit vor der Hochphase der letzten Eiszeit, die im heutigen Belgien und Frankreich gefunden wurden, gehören einem mtDNA –Typ an, der als Haplogruppe M bezeichnet wird. "Ich konnte es nicht glauben. Das erste Mal als ich zu diesem Ergebnis gelangte, war ich überzeugt, dass ein Fehler vorliegen muss, denn in heutigen Europäern ist diese Haplogruppe nicht zu finden. Dagegen ist sie in Asien und in den ursprünglichen australischen und amerikanischen Bevölkerungsgruppen weit verbreitet", berichtet Cosimo Posth von der Universität Tübingen, Hauptautor der Studie. Die Wissenschaftler vermuten, dass zu Beginn des letzten Eiszeitmaximums die Bevölkerungszahl Europas beträchtlich schrumpfte und die Jäger- und Sammlerpopulationen sich an eine Reihe von Zufluchtsorten in Südeuropa zurückzogen, von denen aus sie sich mit der Erwärmung des Klimas wieder über Europa ausbreiteten. Während dieses Bevölkerungsrückgangs, so die Annahme, ging die Haplogruppe M in Europa verloren.

Die mtDNA aller heutigen Nicht-Afrikaner ist den Haplogruppen N oder M zuzurechnen. Der Zeitpunkt der Ausbreitung dieser genetischen Typen wurde bislang sehr unterschiedlich datiert. Dank der neuen Analysen konnten jetzt die Autoren der Studie mit Hilfe der Radiocarbon-Methode datierte mtDNA als molekulare Eichpunkte setzen. So gelang es ihnen fundierter als bisher, die letzten gemeinsamen Vorfahren aller Nicht-Afrikaner, die Mitochondrien der M- und N-Linie trugen, auf rund 50 000 Jahre zu bestimmen. "Diese Datierung stützt die Vermutung einer späten und schnellen Ausbreitung aller nicht-afrikanischen Bevölkerungsgruppen nicht nur nach Asien, sondern auch nach Europa", erklärt Johannes Krause, Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte.

Die neuen Daten halten weitere überraschende Resultate bereit. Während bisher weitreichende Bevölkerungsverschiebungen nur für die Jungsteinzeit und die Bronzezeit gezeigt werden konnten, fand das Forschungsteam jetzt Hinweise auf einen weiteren, bisher unbekannten tiefgreifenden Wandel der europäischen Bevölkerung vor rund 14.500 Jahren am Ende der Eiszeit. "Es sieht so aus, als ob die europäischen Jäger und Sammler in dieser Periode starker Erwärmung weitgehend durch eine Bevölkerungsgruppe aus einer anderen mütterlichen Abstammung ersetzt wurde", sagt Adam Powell, ein weiterer Hauptautor der Studie und Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut in Jena. Er fügt hinzu: "Unsere Modellierung der frühen europäischen Jäger und Sammler zeigt, dass ihre Demografie wahrscheinlich sehr viel komplizierter war, als wir bisher annahmen."

Zukünftige Analysen vollständiger Genome von Skeletten aus unterschiedlichen Zeitaltern und weiteren geografischen Regionen werden dazu beitragen, ein umfassenderes Bild zu zeichnen. Die Wissenschaftler hoffen, die genetischen Konsequenzen des Rückzugs in klimatische Refugien während des Eiszeitmaximums besser beschreiben zu können, und sie möchten herausfinden, woher die Jäger und Sammler kamen, die den drastischen genetischen Wandel der Europäer am Ende der Eiszeit herbeiführte.

 

Publikation

Cosimo Posth, Gabriel Renaud, Alissa Mittnik, Dorothée G. Drucker, Hélène Rougier, Christophe Cupillard, Frédérique Valentin, Corinne Thevenet, Anja Furtwängler, Christoph Wißing, Michael Franken, Maria Malina, Michael Bolus, Martina Lari, Elena Gigli, Giulia Capecchi, Isabelle Crevecoeur, Cédric Beauval, Damien Flas, Mietje Germonpré, Johannes van der Plicht, Richard Cottiaux, Bernard Gély, Annamaria Ronchitelli, Kurt Wehrberger, Dan Grigourescu, Jiří Svoboda, Patrick Semal, David Caramelli, Hervé Bocherens, Katerina Harvati, Nicholas J. Conard, Wolfgang Haak, Adam Powell and Johannes Krause: Pleistocene mitochondrial genomes suggest a single major dispersal of non-Africans and a Late Glacial population turnover in Europe. Current Biology, Online-Vorabveröffentlichung am 4. Februar 2016.
DOI: 10.1016/j.cub.2016.01.037