Von dem Tempel in Esna, 60 Kilometer südlich des ägyptischen Luxor, ist nur noch die Vorhalle (der sog. Pronaos) erhalten, diese aber vollständig: Mit 37 Metern Länge, 20 Metern Breite und 15 Metern Höhe wurde der Sandsteinbau unter dem römischen Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) vor das eigentliche Tempelgebäude gesetzt und dürfte dieses in den Schatten gestellt haben. Das Dach wird von 24 Säulen getragen, die Abschlüsse der 18 freistehenden Säulen sind mit unterschiedlichen Pflanzenmotiven gestaltet. "In der ägyptischen Tempelarchitektur ist dies eine absolute Ausnahme", sagt der Tübinger Wissenschaftler Daniel von Recklinghausen.
Die Arbeit an den aufwändigen Dekorationen dauerte vermutlich bis zu 200 Jahre: Der Tempel von Esna ist berühmt für seine astronomische Decke und besonders für die hieroglyphischen Inschriften. Sie gelten als das jüngste zusammenhängende hieroglyphische Textkorpus, das heute erhalten ist, und erzählen von damaligen religiösen Vorstellungen und dem Kultgeschehen vor Ort.
Die Lage mitten im Stadtzentrum hat wohl dazu beigetragen, dass die Vorhalle erhalten blieb und nicht wie andere Gebäude während der Industrialisierung Ägyptens als Steinbruch zur Gewinnung von Baumaterial genutzt wurde. Vielmehr war der Tempel mit der Stadt verwachsen: Häuser und Hütten waren teilweise direkt an seine Mauern gebaut, an anderen Stellen ragte er aus einem Schuttberg, wie unter anderem auf Postkarten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sehen ist. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diente die Halle zeitweise als Lager für Baumwolle.
Schon zu Napoleons Zeiten erregte der Tempel bzw. sein Pronaos in Fachkreisen große Aufmerksamkeit, da man ihn als Idealbeispiel altägyptischer Tempelarchitektur betrachtete. Den eigentlichen Reichtum, die Inschriften erkannte der französische Ägyptologe Serge Sauneron (1927–1976), der die Freilegung des Tempels vorantrieb und die Inschriften vollständig publizierte. Allerdings ohne die Originalfarben: Die konnte Sauneron unter den Schichten aus Ruß und Vogelexkrementen nicht erkennen.
Nach deren Entfernung zeigt sich der Tempel nun erstmals, wie er vor rund 2.000 Jahren auf Betrachter wirkte. Zudem biete er nun neue Ansätze für die ägyptologische Forschung, sagt Christian Leitz: "Die Hieroglyphen, die Sauneron erforschte, wurden oft nur sehr grob ausgemeißelt, die Details erst durch die farbige Bemalung angebracht. Das heißt, bisher sind oft nur vorläufige Versionen der Inschriften erforscht. Erst jetzt erhalten wir ein Bild der finalen Textfassung." Im Bereich der astronomischen Decke seien zudem viele Inschriften nicht im Relief ausgeführt worden, sondern nur in Tinte aufgemalt. "Sie waren bisher unter der Rußschicht unerkannt und werden jetzt Stück für Stück freigelegt. Hier haben wir etwa die Namen altägyptischen Sternbilder gefunden, die bisher noch völlig unbekannt waren."
Seit 2018 arbeiten die beiden Tübinger Wissenschaftler in dem Kooperationsprojekt mit Ägypten daran, die Farbschichten freizulegen, zu konservieren und dokumentieren. Selbst in Zeiten der Corona-Pandemie werden die Arbeiten von einem ägyptischen Team aus 15 Restauratoren und einem Chefkonservator des ägyptischen Ministeriums fortgesetzt. In regelmäßigen Abständen werden die Ergebnisse in Dokumentationskampagnen photographisch dokumentiert. An der Universität Tübingen werden die Funde inhaltlich ausgewertet und in Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Kooperationspartner auf ägyptischer Seite sind Dr. Hisham El-Leithy, Mohamed Saad, Ahmed Amin, Mustafa Ahmed, Ahmed Emam. Das Projekt wird gefördert durch die Gerda-Henkel-Stiftung, die Ancient Egypt Foundation und die Santander Bank.