In einer Höhle der Judäischen Wüste nahe dem Toten Meer wurden vor Jahrzehnten Urkunden auf Papyrus entdeckt, die während des Bar-Kochba Aufstandes, bei dem sich Juden gegen die römische Herrschaft erhoben, von geflüchteten Menschen versteckt worden waren. Ein besonders schwer entzifferbares Dokument blieb bislang unbeachtet. Die nunmehr vorgelegte Publikation zeigt: Der Papyrus enthält die Konzeptpapiere zweier Ankläger in einem verwickelten Strafprozess, der ein völlig neues Licht auf die Gerichtsbarkeit in den römischen Provinzen wirft. "Diese Urkunde ist singulär, weil sie direkte Einblicke in einen Prozess in diesem Teil der römischen Welt vermittelt. Es ist unsere erste Einsicht in die Arbeitsweise der römischen Gerichte im Nahen Osten", sagt Anna Dolganov vom Österreichischen Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Wien und Israel in der internationalen Fachzeitschrift "Tyche" eine erste Edition und Interpretation des Textes veröffentlicht hat.
Der Papyrus erzählt von Steuerbetrug und Fälschung, dem fingierten Kauf und der betrügerischen Freilassung von Sklaven in den römischen Provinzen Iudaea und Arabia, also dem Raum des heutigen Israel und Jordanien. Hauptangeklagte sind Gadalias und Saulos, denen korrupte Machenschaften vorgeworfen werden.Gadalias, möglicherweise ein römischer Bürger, war Sohn eines Notars und blickte bereits auf eine längere kriminelle Vergangenheit zurück. Saulos soll mehrere Sklaven durch einen Scheinkauf an einen Komplizen veräußert und später freigelassen haben, ohne die dafür vorgeschriebenen Steuern abzuführen. Als die Geschichte aufzufliegen drohte, versuchte Saulos mit Unterstützung des Gadalias, Urkunden zu fälschen, um die wahren Vorgänge zu vertuschen. Auf beide Vergehen standen schwere Strafen, etwa Arbeit im Steinbruch oder gar das Todesurteil.
Der Kriminalfall ereignete sich zwischen zwei jüdischen Aufständen gegen die römische Herrschaft: der Diaspora Revolte (115-117 n. Chr.) und dem Bar-Kochba Aufstand (132-136 n. Chr.). Die Ankläger unterstellen den Beschuldigten vor diesem Hintergrund aufrührerisches Verhalten und erwähnen frühere Straftaten und gegenseitige Komplizenschaft. Denn es war denkbar, dass sich die Angeklagten nicht nur der Profitgier und Steuerhinterziehung schuldig gemacht hatten. Es wird angedeutet, dass es sich um organisierte Kriminalität oder sogar eine Verschwörung gegen den römischen Staat handeln könnte. Da die Herkunft der Sklaven unbekannt bleibt, ging es vielleicht um illegalen Sklavenhandel über die Reichsgrenze. Anderenfalls könnten Gadalias und Saulos die Absicht gehabt haben, versklavte Juden gemäß religiöser Vorschriften vom römischen Sklavenmarkt freizukaufen.
Bisher wusste man wenig darüber, wie das römische Recht im griechischen Osten praktiziert wurde. "Die meisten erhaltenen Papyri dieser Epoche stammen aus Ägypten, das Historikerinnen und Historiker oft als Sonderfall betrachten. Aber diese Urkunde zeigt deutlich, dass die institutionellen Strukturen des Römischen Reiches ziemlich einheitlich organisiert waren", betont Dolganov: "Die Ankläger beherrschen die Sprache der römischen Verwaltung, sie verwenden römische Rechtsbegriffe auf Griechisch. Der Papyrus veranschaulicht zudem, dass der römische Staat die Macht hatte, auch in entlegenen Regionen die Privatgeschäfte der Menschen zu überwachen und Kontrolle auszuüben." Ob es zu einem abschließenden Urteil gekommen ist, wissen wir allerdings nicht. Die Forschenden vermuten, dass die Verhandlungen von dem Aufstand unterbrochen worden waren.
Publikation
orgery and Fiscal Fraud in Iudaea and Arabia on the Eve of the Bar Kokhba Revolt: Memorandum and Minutes of a Trial before a Roman Official (P.Cotton)
Tyche. 20.1.2025
DOI: 10.25365/tyche-2023-38-5