Die Fundstelle
Eigentlich wollte ein Forschungsteam der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) Mangankrusten an einem Mergelrücken untersuchen, der etwa 10 km vor Rerik am Grund der Mecklenburger Bucht liegt. Dabei wurden sie auf eine 970 m lange, regelmäßige Steinstruktur aufmerksam. Diese besteht aus bis zu 1.500 tennis- bis fußballgroßen Steinen, die einige große Findlinge zu einem bis zu 1 m hohen Wall verbinden. Die Forschenden meldeten ihre Entdeckung dem Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern (LAKD M-V), das die weiteren Untersuchungen koordinierte.
Die Fundstelle liegt am südwestlichen Rand des Mergelrückens. Der Steinwall verläuft hier parallel zu einer Niederung, vermutlich einem ehemaligen See oder Moor. Die Ostsee ist an dieser Stelle heute 21 Meter tief. Der Steinwall muss also errichtet worden sein, bevor der Wasserspiegel nach dem Ende der letzten Eiszeit stark anstieg. Dies geschah zuletzt vor etwa 8.500 Jahren. Große Teile der bis dahin begehbaren Landschaft wurden damals überschwemmt.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW), des CAU-Forschungsschwerpunkts Kiel Marine Science, der Universität Rostock, des Zentrums für Baltische und Skandinavische Archäologie in Schleswig, das seit 2024 zum Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA) gehört, des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), des Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und des LAKD M-V haben mit modernen geophysikalischen Methoden ein detailliertes 3D-Modell der Mauer erstellt und die Struktur des umgebenden Untergrundes rekonstruiert. Anhand von Sedimentproben aus dem südlich angrenzenden Becken ließ sich das mögliche Entstehungsalter der linearen Struktur eingrenzen. Außerdem fanden Untersuchungen durch Forschungstaucherinnen und Forschungstaucher der Universitäten Rostock und Kiel statt, um ein genaues Bild der Situation am Meeresgrund zu bekommen.
Die bisherigen Ergebnisse
"Die Untersuchungen haben bestätigt, dass eine natürliche Entstehung ebenso unwahrscheinlich ist wie eine Errichtung in moderner Zeit, etwa durch Baumaßnahmen zur Verlegung von Seekabeln oder Steinfischerei. Dafür sind die Steine zu planvoll und regelmäßig angeordnet", erläutert Jacob Geersen, Erstautor der nun in der renommierten Zeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) veröffentlichten Studie. Er beschäftigt sich im Rahmen des neuen IOW-Forschungsschwerpunktes "Flachwasserprozesse und deren Relevanz für die gesamte Ostsee" mit geologischen und anthropogenen Prozessen im Ostseeraum.
Schließt man eine natürliche oder moderne Entstehung aus, kommt für die Errichtung der Steinmauer nur die Zeit nach Ende der letzten Eiszeit (vor etwa 12.000 Jahren) in Betracht, als die Landschaft noch nicht von der Ostsee überflutet war. "Es wird angenommen, dass in dieser Zeit nicht mehr als 5.000 Menschen in ganz Nordeuropa lebten. Ein Hauptnahrungsmittel dieser Gruppen waren Rentiere, die im jahreszeitlichen Rhythmus in Herden durch die vegetationsarme nacheiszeitliche Landschaft zogen. Wahrscheinlich diente der Wall dazu, die Rentiere am Rande eines Sees in die Enge zu treiben, so dass sie von den steinzeitlichen Jägern mit Jagdwaffen erlegt werden konnten", erläutert Marcel Bradtmöller von der Universität Rostock.
Solche Jagdtechniken sind in anderen Teilen der Welt bereits mehrfach nachgewiesen worden. So haben US-amerikanische Archäologinnen und Archäologen im Lake Huron (Michigan) in 30 m Wassertiefe Steinmauern gefunden, die nachweislich für die Treibjagd von Karibus, dem Nordamerikanischen Pendant des Rentieres, errichtet wurden. Die Steinmauern im Lake Huron und in der Mecklenburger Bucht weisen große Ähnlichkeiten auf.
Da vor etwa 11.000 Jahren, als das Klima wärmer wurde und sich Wälder ausbreiteten, mit den letzten Rentieren auch die letzten wandernden Herdentiere aus unseren Breiten verschwanden, dürfte die Steinmauer nicht nach diesem Zeitpunkt errichtet worden sein. Die Steinmauer wäre damit das älteste jemals in der Ostsee entdeckte menschliche Bauwerk. "Zwar sind in der Wismarbucht und entlang der Küsten Mecklenburg-Vorpommerns zahlreiche gut erhaltene archäologische Fundstellen aus der Steinzeit bekannt, diese liegen aber in deutlich geringeren Wassertiefen und datieren meist in die Mittel- und Jungsteinzeit (ca. 7.000 - 2.500 v. Chr.)", erklärt Jens Auer vom Landesamtes für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern, der an der Erforschung und Beprobung vieler dieser Fundstellen beteiligt war.
Die Steinmauer und der umgebende Meeresboden sollen mithilfe von Seitensichtsonar, Sedimentecholot und Fächerecholot noch genauer untersucht werden. "Darüber hinaus haben wir inzwischen Hinweise, die eine Existenz vergleichbarer Steinwälle an anderen Stellen in der Mecklenburger Bucht vermuten lassen. Diese werden wir systematisch erkunden", erklärt Jens Schneider von Deimling, von der Uni Kiel. Auch weitere Tauchgänge der Universität Rostock und durch Mitarbeitende des Landesamts für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern sind geplant, um den Steinwall und ihre Umgebung nach archäologischen Funden abzusuchen, die bei der Interpretation helfen können.
Mithilfe des Lumineszenzverfahrens soll versucht werden, die Steinmauer zu datieren. Mit dieser Methode lässt sich feststellen, wann die Oberfläche eines Steins zuletzt dem Sonnenlicht ausgesetzt war. Außerdem ist eine detaillierte Rekonstruktion der umgebenden Landschaft vorgesehen. Insgesamt können die Untersuchungen einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der frühen steinzeitlichen Wildbeutergruppen leisten und helfen, deren Lebensweise, Organisation und Jagdmethoden zu verstehen.
Publikation
A submerged Stone Age hunting architecture from the Western Baltic Sea
PNAS. 12.2.2024
DOI: 10.1073/pnas.2312008121