Beide Göttinnen werden als Geier mit ausgebreiteten Schwingen dargestellt. Während Nechbet einen Geierkopf und die oberägyptische Krone trägt, ist Wadjet an der unterägyptischen Krone erkennbar, die auf dem Kopf einer Kobra sitzt.
Forschende des Instituts für Alte Kulturen des Orients an der Universität Tübingen und des ägyptischen Ministeriums für Tourismus und Altertümer (Dr. Hisham el-Leithy) arbeiten seit 2018 daran, die Reliefs, Malereien und Inschriften des Tempels freizulegen und die ursprünglichen Farben wieder sichtbar zu machen. »Tempel und Götterdarstellungen des Altertums waren oft mit leuchtenden Farben bemalt, die aber durch äußere Einflüsse meistens verblasst oder vollständig verschwunden sind«, sagte Leitz. Im Tempel von Esna wurden die Farben fast 2000 Jahre lang durch eine Schmutz- und Rußschicht überdeckt und auf diese Weise konserviert.
Die nun aufgetauchten Darstellungen der beiden Kronengöttinnen waren auch der Fachwelt in ihrer Farbenpracht bislang unbekannt. »Der französische Ägyptologe Serge Sauneron hat ab den 1950er Jahren den Tempel von Esna und die damals sichtbaren Bildwerke systematisch dokumentiert«, sagte der Tübinger Wissenschaftler Dr. Daniel von Recklinghausen: »Das Bildprogramm des Tempels ist hinsichtlich des Reichtums der Darstellungen und des Erhaltungszustands der Farben einzigartig.«
Mehr als die Hälfte der Decken und acht der 18 Säulen konnten bislang durch ein Team unter Leitung von Ahmed Emam gesäubert, konserviert und dokumentiert werden. Darüber hinaus sind nun die beiden Architrave des mittleren Deckenabschnitts – horizontale Balken, die den Oberbau tragen – von Ruß befreit. »Damit lassen sich erstmalig sämtliche Dekorationselemente zueinander in Beziehung setzen«, sagte Christian Leitz. »Dies war allein mit der Publikation Saunerons unmöglich.« Der Tübinger Ägyptologe plant nun eine Gesamtübersetzung der Esna-Inschriften und beschäftigt sich zudem mit den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Inschriften und Darstellungen im Inneren des Tempels.
Von dem Tempel in Esna, 60 Kilometer südlich des ägyptischen Luxor, ist nur noch die Vorhalle (der sog. Pronaos) erhalten, diese aber vollständig: Mit 37 Metern Länge, 20 Metern Breite und 15 Metern Höhe wurde der Sandsteinbau spätestens unter dem römischen Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) vor das eigentliche Tempelgebäude gesetzt und dürfte dieses in den Schatten gestellt haben. Die Lage mitten im Stadtzentrum hat wohl dazu beigetragen, dass die Vorhalle erhalten blieb und nicht wie andere Gebäude während der Industrialisierung Ägyptens als Steinbruch zur Gewinnung von Baumaterial genutzt wurde. Schon zu Napoleons Zeiten erregte der Pronaos in Fachkreisen große Aufmerksamkeit, da man ihn als Idealbeispiel altägyptischer Tempelarchitektur betrachtete.
Die Restaurierungsarbeiten des Gesamtprojekts wurden finanziell vom American Research Center in Egypt, der Ancient Egypt Foundation und der Gerda-Henkel-Stiftung gefördert.