Die sogenannte Völkerwanderungszeit, die vom 4. bis 8. Jahrhundert dauerte, folgte dem Niedergang des Weströmischen Reiches und war eine Zeit großer sozioökonomischer und kultureller Veränderungen in Europa. Doch trotz mehr als einem Jahrhundert historischer und archäologischer Forschung ist noch vieles über diese Zeit unbekannt oder wird heftig diskutiert, da es oft an zuverlässigen schriftlichen Berichten fehlt. Eine kürzlich in Nature Communications veröffentlichte Studie versucht, neues Licht auf diese Zeit zu werfen. Das internationale Forschungsteam aus Genetikern, Historikern und Archäologen unter der Leitung von Patrick Geary vom Institute for Advanced Study, Krishna Veeramah von der Stony Brook University, Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und David Caramelli von der Universität Florenz hat hierfür das Erbgut von Individuen die auf zwei mittelalterlichen Friedhöfen bestattete wurden sequenziert. Einer der Friedhöfe liegt im heutigen Ungarn, der andere im heutigen Italien.
Diese Studie liefert das bisher deutlichste Bild vom Leben und den Wanderungsbewegungen der mit den Langobarden verbundenen Gemeinschaften, die den größten Teil Italiens mehr als zweihundert Jahre lang regierten, nachdem es 568 n. Chr. aus der römischen Provinz Pannonien (dem heutigen Ungarn) eingewandert war. Das Team generierte Daten vom norditalienischen Friedhof in Collegno und vom ungarischen Friedhof in Szólád, wobei letzterer die Anzahl der Genome, die von einer einzigen archäologischen Stätte stammen, fast verdoppelte. Die Studie zielt darauf ab, zu klären, wie die beiden Gemeinschaften entstanden, wie die Menschen lebten und wie die Zuwanderer mit der lokalen Bevölkerung interagierten, die sie historischen Berichten zufolge dominierten. Die detaillierte genetische Charakterisierung ermöglichte es dem Team, die Beziehung zwischen der genetischen Abstammung der Gemeinschaft und den archäologischen Funden zu untersuchen.
Dabei zeigte sich, dass auf beiden Friedhöfen Individuen, die mit aufwändigen Grabbeigaben – wie Schwerter und Schilde für die Männer sowie Perlenketten und Broschen für die Frauen – bestattet wurden, tendenziell genetisch nord- oder mitteleuropäischer Abstammung waren, während die Individuen deren Gräber weniger aufwendige Grabbeigaben enthielten, südlicherer Abstammung waren. Darüber hinaus hatten sich die Individuen mit aufwändigeren Grabbeigaben proteinreicher ernährt.
Das Forschungsteam konnte umfassende Genealogien der auf diesen Friedhöfen begrabenen Menschen rekonstruieren und Familienbeziehungen über mehrere Generationen hinweg finden. "Es sieht so aus, als hätten sich diese beiden Friedhöfe um eine oder zwei große Gruppen biologisch verwandter Menschen gebildet, wobei die überwiegende Mehrheit dieser Individuen Männer sind", erklärt Veeramah. "Darüber hinaus teilten diese verwandten Individuen tendenziell die nord- bzw. mitteleuropäische genetische Abstammung, die mit reichen Grabbeigaben verbunden ist."
Das Team weist darauf hin, dass es ungewöhnlich ist, diesen Typ genetischer Abstammung im 6. Jahrhundert auf dem Gebiet der heutigen Länder Ungarn und Italien zu sehen. "Die Kombination aus DNA- und Strontiumisotopen-Analyse deutet darauf hin, dass die Individuen nördlicher Abstammung Migranten waren, während diejenigen südlicher Abstammung Einheimische waren. Eine Beobachtung, die mit der germanischen Invasion in Italien übereinstimmt", sagt Cosimo Posth, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und einer der drei Hauptautoren der Studie.
Geary fügt hinzu: "Wir hatten nicht erwartet, dass wir einen so starken Zusammenhang zwischen genetischem Hintergrund und materieller Kultur beobachten würden. Dies deutet darauf hin, dass in diesen speziellen Gemeinschaften Menschen mit unterschiedlichem genetischem Hintergrund lebten, dass sie sich dieser Unterschiede bewusst waren und dass diese wahrscheinlich ihre soziale Identität beeinflussten."
Veeramah, Caramelli, Krause und Geary betonen, dass diese Ergebnisse nur Momentaufnahmen der Periode darstellen und dass weitere Untersuchungen auf anderen Friedhöfen in anderen Regionen notwendig sind, um diese Periode wirklich zu verstehen. "Es könnte sein, dass wir uns einige neue Friedhöfe in 50 km Entfernung ansehen oder Friedhöfe, die 100 Jahre älter oder jünger sind und ganz andere Muster der sozialen Organisation finden. Menschen sind heute kompliziert, und sie waren es mit ziemlicher Sicherheit auch schon zur Zeit der Völkerwanderung", sagt Geary. "Es gibt Tausende von mittelalterlichen Friedhöfen da draußen, die wir uns ansehen können. Das ist hoffentlich erst der Anfang unserer Arbeit."
"Was wir mit dieser Studie vorgestellt haben, ist ein einzigartiger disziplinübergreifender Rahmen für die Zukunft", erläutert Geary abschließend, "der Experten verschiedener Disziplinen vereint, um historische, genetische, isotopische und archäologische Belege neu zu interpretieren und in Übereinstimmung zu bringen, um unser Wissen über die Vergangenheit zu vertiefen, neue Informationen darüber zu gewinne, wie sich Bevölkerungsgruppen bewegen, wie Kultur übertragen wird, wie man Identität besser versteht und neue Wege findet, um die Komplexität, Heterogenität und Formbarkeit der europäischen Bevölkerung in Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen".
Publikation
Understanding 6th-Century Barbarian Social Organization and Migration through Paleogenomics
Nature Communications. 11.9.2018
DOI: 10.1038/s41467-018-06024-4