Die analysierten Mahlsteine stammen von der Fundstelle Oldenburg LA 77, einer mittelneolithischen Siedlung (3.270-2.920 v. u. Z.). Sie befand sich auf einer Düne im ehemaligen Feuchtgebiet des Oldenburger Grabens an der südwestlichen Ostseeküste. Während des Neolithikums gab es in diesem Feuchtgebiet eine Reihe von Siedlungen, von denen Oldenburg LA 77 eine der am besten erforschten ist. Dieses Dorf ist repräsentativ für einen sozialen Wandel in Norddeutschland. Vormals lebten Menschen in isolierten Gehöften, doch im späten vierten Jahrtausend v. u. Z. wurden größere dörfliche Gemeinschaften gegründet.
Die Ausgrabungen erbrachten Nachweise für zahlreiche Häuser, für einen Brunnen und es wurden tausende Einzelfunde gemacht, wie Feuersteinartefakte, Keramikscherben und Mahlsteine. Dr. Jingping An, wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1266 und Erstautorin der Studie, erklärt: "Mahlsteine sind hervorragende Archive für die Bewahrung von Informationen über pflanzliche Nahrungsmittel. Selbst ein kleines Fragment kann viele pflanzliche Mikrofossilien enthalten, darunter Stärkekörner und Phytolithen."
Die von den Mahlsteinen aus Oldenburg LA 77 geborgenen pflanzlichen Mikrofossilien geben Aufschluss über die Verarbeitung verschiedener pflanzlicher Nahrungsmittel, neben Weizen und Gerste sind dies auch Früchte von Wildgräsern und Knöterich, Eicheln und stärkehaltige Knollen; einige wenige Samen stammen möglicherweise von wilden Hülsenfrüchten. An dieser Vielfalt an pflanzlichen Nahrungsressourcen aus dem 5000 Jahre alten Dorfes Oldenburg LA 77 sind besonders solche von Wildpflanzen hervorzuheben. "Wildpflanzen wurden bereits durch die Analyse verkohlter Samen, Früchte und Knollen aus Bodenproben von diesem neolithischen Dorf dokumentiert. Diese Studie bestätigt einmal mehr deren Verzehr, indem sie sich direkt mit der Verarbeitung von Lebensmitteln befasst", erklärt Prof. Wiebke Kirleis, Leiterin der Studie im SFB 1266, hinzu. "Die Menschen in der Vergangenheit wussten, wie sie ihre Ernährung bereichern konnten", ergänzt Dr. Jingping An. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Analyse von Pflanzenresten aus einer anderen Siedlung der Trichterbecherkultur , dem Fundort Frydenlund (ca. 3600 v. u. Z.) im heutigen Dänemark, die Prof. Wiebke Kirleis gerade zusammen mit Kolleg:innen vom Moesgaard Museum in Aarhus, Dänemark, veröffentlicht hat. In Frydenlund finden sich auf den Mahlsteinen pflanzliche Mikrofossilien ausschließlich von Wildpflanzen.
In Oldenburg LA 77 deuten die Mikrofossilanalysen an den Mahlsteinen darauf hin, dass Getreidekörner vermutlich sowohl zu groben Bruchstücken zerkleinert als auch zu feinem Mehl gemahlen worden sind. Zusammen mit kürzlich veröffentlichten Biomarker-Nachweisen für Getreide auf einem sog. Backteller aus Oldenburg LA 77 deutet dies auf eine mögliche Herstellung von Fladenbrot hin, während botanische und chemische Analyse von angebrannten Speiseresten auf Keramikscherben das Kochen von Brei belegen. Dieses Ergebnis unterscheidet sich von den Untersuchungen des Fundortes Frydenlund, wo Beweise für das Mahlen von Getreide fehlen, und die Fülle von verkohlten Getreidekörnern aus Bodenproben darauf schließen lässt, dass das Getreide höchstwahrscheinlich als Brei verzehrt wurde. "Es ist spannend zu sehen, dass die ersten Bäuerinnen und Bauern ein ähnliches Interesse am Verzehr von Wildpflanzen hatten, sich aber in der Art der Zubereitung ihres Getreides unterschieden", betont Prof. Wiebke Kirleis. In der Tat deuten die vorliegenden Studien darauf hin, dass die frühen Menschen der Tricherbecherkultur in Norddeutschland und Dänemark möglicherweise unterschiedliche Vorlieben für Mahlzeiten mit Getreide hatten. "Die Nahrungszubereitung und das Kochen in dieser Zeit waren also komplex und vielfältig, wie die von ihnen hinterlassenen Spuren zeigen“, ergänzt Dr. Jingping An.
Publikation
Functional exploration of grinding and polishing stones from the Neolithic settlement site of Oldenburg LA77, northern Germany − evidence from plant microfossil analysis
Journal of Archaeological Science: Reports. 21.12.2024
DOI: 10.1016/j.jasrep.2024.104913