Exzerpte waren viele Jahrhunderte lang die gängigste Methode, um Wissen zu "speichern". Auszüge aus den Werken anderer Autoren wurden abgeschrieben, dienten als Erinnerungshilfe für Gelesenes, aber auch als Reservoir für eigene Werke. "Exzerpte waren bis ins 19. Jahrhundert für alle Wissenschaftler sehr wichtig. In der Forschung finden sie heute bislang jedoch noch wenig Beachtung", so die Germanistin Prof. Dr. Elisabeth Décultot, Humboldt-Professorin und Direktorin des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) an der MLU. Sie leitet das neue Projekt zu den Exzerptheften Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768) gemeinsam mit Prof. Dr. Paul Molitor vom Institut für Informatik der MLU und Prof. Dr. Andrea Rapp von der TU Darmstadt. In einer großen Digitaledition sollen die Exzerpthefte zusammen mit den Originalwerken, aus denen Winckelmann diese abgeschrieben hatte, und entsprechenden Textstellen in seinen eigenen Werken veröffentlicht und mit entsprechenden Querverweisen versehen werden.
"Das Projekt soll als Pilotprojekt zur Erforschung solcher Exzerpte dienen", so Décultot. Während sie ihre Expertise zur Kunstgeschichte und Winckelmanns Werken einbringt, steuern die Projektpartner ihre Erfahrung im Bereich der Digital Humanities bei. Molitor betreut die technische Seite des Projekts, die Philologin Rapp bringt ihre Expertise bei der digitalen Textanalyse ein. Die Digitaledition soll im Open-Access-Verfahren für weitere Forschung zur freien Verfügung gestellt werden.
Durch die Verbindung der verschiedenen Texte will das Team unter anderem den Umgang Winckelmanns mit fremden Texten erforschen. "Es gibt in seinen Werken viele Fälle von dem, was man heute Plagiat nennen würde", so Décultot. Der Vergleich mit den Exzerptheften soll helfen, herauszufinden, an welchen Stellen er Textteile mit oder ohne Nennung der Autorschaft verwendet.
Bevor die Werke digital verglichen werden können, müssen sie jedoch vollständig erschlossen werden. "Die Exzerpthefte umfassen circa 7.500 Seiten, zu einem Großteil aus Werken fremdsprachiger Autoren", sagt Décultot. Diese liegen zu einem Großteil bereits digital in Form von Scans vor und müssen nun in Textform erfasst und teils übersetzt werden. "Winckelmann hat eine Vielzahl kunsthistorischer Begriffe im Deutschen geprägt, indem er französische oder italienische Wörter als Grundlage nutzte", so die Wissenschaftlerin. Mithilfe der computergestützten Analyse hofft Décultot, weitere bisher noch nicht aufgedeckte Verbindungen zwischen Winckelmanns Quellen und seinen eigenen Werken zu finden.
Winckelmann wurde 1717 in Stendal geboren und studierte für vier Semester an der Universität Halle und später in Jena. Danach arbeitete er als Hauslehrer und Bibliothekar, bevor er schließlich nach Italien reiste und in Rom zum "Aufseher aller Altertümer im Kirchenstaat" ernannt wurde. Er gilt als Begründer der modernen Kunstgeschichte und Archäologie.