Durch das Roden von Wäldern, das Abbrennen von Weideland, das Pflügen von Feldern und die Ernte von Getreide übt der Mensch starken selektiven Druck auf die Pflanzen in seiner Umwelt aus. Pflanzen mit Merkmalen, die eine großräumige Samenverbreitung begünstigen, wie z. B. schnelles jährliches Wachstum, fehlende Giftstoffe und zahlenmäßig große Samengenerationen, hatten eine höhere Chance in diesen vom Menschen beeinflussten Landschaften zu überleben und im Laufe der Sesshaftwerdung des Menschen zu florieren. In der aktuellen Studie argumentieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, diese Merkmale könnten sich als Anpassung an große Pflanzenfresser zur Sicherung einer mutualistischen (wechselseitig nutzbringenden) Beziehung entwickelt haben.
In der neuen Studie wird unter anderem die Hypothese formuliert, dass das Vorliegen bestimmter anthropophiler Merkmale erklären könne, warum nur wenige Pflanzenfamilien, wie Quinoa, einige Gräser und Knöterichgewächse, die Kultur- und Unkrautbestände rund um den Globus dominieren. Diese Eigenschaften erklärten auch, warum so viele Gattungen in verschiedenen Regionen der Welt wiederholt domestiziert wurden. Die "Unkrauthaftigkeit" und Anpassungsfähigkeit dieser Pflanzen war das Ergebnis einer Exaptation (Zweckentfremdung) oder einer Veränderung der ursprünglichen Funktion von evolutionären Merkmalen. Die Pflanzen hätten sich somit nicht durch gezieltes menschliches Zutun entwickelt, sondern gewannen in der Umgebung von Siedlungen, auf Feldern und Weideland allmählich an Bedeutung.
Gräser und Feldpflanzen waren jedoch nicht die einzigen Pflanzen, die frühere Anpassungen nutzten, um in von Menschen beeinflussten Landschaften zu gedeihen. Auch eine Reihe von Bäumen wies bereits vorteilhafte Merkmale auf, wie z. B. große, fleischige Früchte, die sich durch Mutualismus mit großen Pflanzenfressern entwickelt hatten. Das rasche Aussterben der Megafauna am Ende des Pleistozäns ließ kleine, isolierte Populationen vieler dieser großfruchtigen Baumarten zurück und schuf so die Voraussetzungen für deutlich stärkere Veränderungen durch spätere Einkreuzungen. Als der Mensch begann, diese Bäume auch an andere Standorte zu transportieren, war es wahrscheinlich, dass sie sich mit entfernten Verwandten kreuzten, was in einigen Fällen zu größeren Früchten und robusteren Pflanzen führte. Auf diese Weise scheint der Domestikationsprozess für viele mehrjährige Pflanzen schneller verlaufen und durch das Aussterben von Megafauna mit Populationsveränderungen verbunden gewesen zu sein.
"Der Schlüssel zum Verständnis der Pflanzendomestizierung liegt vermutlich weiter in der Vergangenheit als bisher von Archäologen vermutet. Wir müssen deshalb die Domestizierung als weiteren Schritt in der Entwicklung von Leben auf der Erde betrachten und nicht lediglich als isoliertes Phänomen", erklärt Dr. Robert Spengler, Leiter der archäobotanischen Labore des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte und Erstautor der Studie. "Wenn wir die Ökologie hinter dem Ursprung der Landwirtschaft betrachten, müssen wir die drastischen Veränderungen in der Tier- und Pflanzendynamik beachten, die während des Holozäns, insbesondere durch direkte menschliche Einwirkungen, entstanden.", erläutert Prof. Nicole Boivin, Direktorin der Abteilung für Archäologie des Max-Planck-Instituts in Jena.
Die Autoren der Studie prognostizieren außerdem, dass die nächsten wichtigen Entdeckungen zur Pflanzendomestikation nicht durch archäologische Ausgrabungen, in Labors oder auf modernen landwirtschaftlichen Feldern gemacht werden, sondern in restaurierten Megafauna-Landschaften. Dr. Natalie Mueller, einer der Autorinnen der Studie, untersucht in aktuellen Forschungen die potenziellen Verbindungen zwischen Bisons und ausgestorbenen Getreidearten in Nordamerika. Ähnliche Untersuchungen könnten auf restaurierten Megafauna-Landschaften in Europa, wie dem Białowieski Nationalpark in Polen, dem Ust‘-Buotoma Bisonpark oder dem Pleistozän-Park in der Republik Sahka in Russland durchgeführt werden. Die Paläontologin Dr. Ashastina, ebenfalls Ko-Autorin der Studie, erforscht die pleistozänen Vegetationsgemeinschaften Nordasiens und erklärt: "Diese restaurierten Naturschutzgebiete bieten einen neuartigen Einblick in die Natur der Interaktionen zwischen Pflanzen und Tieren und ermöglichen es Ökologen nicht nur, Vegetationsveränderungen, die unter dem Druck von Pflanzenfressern in verschiedenen Ökosystemen auftreten, direkt nachzuvollziehen, sondern auch die tieferen Hinterlassenschaften dieser Mutualismen zu entschlüsseln."
Publikation
Exaptation Traits for Megafaunal Mutualisms as a Factor in Plant Domestication
Frontiers in Plant Science. 24.3.2021
DOI: 10.3389/fpls.2021.649394