„Wir haben festgestellt, dass sich die Unterschiede zwischen frühen und heutigen Gruppen amerikanischer Ureinwohner besser mit der Annahme eines zweifachen Besiedlungsszenarios in Einklang bringen lassen als mit jeder anderen Hypothese. Anders gesagt sind die Unterschiede zwischen den Menschengruppen so groß, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die frühesten Bewohner der Neuen Welt die direkten Vorfahren der heutigen Population amerikanischer Ureinwohner sind“, erklären die Wissenschaftler um Prof. Katerina Harvati vom Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen, Prof. Mark Hubbe von der Universidad Católica del Norte in Chile und Prof. Walter Neves von der brasilianischen Universidade de São Paulo in der jetzt im Online-Fachjournal PLoS ONE veröffentlichten Studie.
Sechs unterschiedliche Szenarien überprüft
Katerina Harvati und ihre Kollegen haben für die neue Studie eine Serie von Skeletten aus Südamerika herangezogen, die zwischen 7500 und 11 500 Jahren alt sind. Die Wissenschaftler entwickelten sechs verschiedene Besiedlungsszenarien für die Neue Welt, darunter eine einzige Besiedlung, eine Einwanderungswelle, deren Gruppen sich über die Zeit hinweg an die Umgebung angepasst haben, und eine zweifache Einwanderung. Jedem dieser Szenarien, liegt eine bestimmte Annahme über die Entwicklung der Schädelform zugrunde.
Die Autoren fanden heraus, dass die unterschiedlichen Schädelformen der modernen und prähistorischen Populationen am besten mit dem Migrationsmodell einer zweifachen Besiedlung Amerikas zusammenpassen. Ihren Ergebnissen zufolge muss der letzte gemeinsame Vorfahr der frühen und heutigen Ureinwohnergruppen außerhalb des amerikanischen Kontinents gelebt haben. Am wahrscheinlichsten ist ein Szenario, nach dem zwei Gruppen unabhängig voneinander aus Nordostasien nach Amerika eingewandert sind. Frühe Einwanderer aus Nordostasien könnten über die Beringstraße auf den Kontinent gelangt sein und frühe amerikanische Populationen in Süd- und Zentralamerika begründet haben. Diese erste Ausbreitung geschah wahrscheinlich vor der Entwicklung der besonderen Schädelmerkmale, die amerikanische Ureinwohner heute auszeichnet. Diese Schädelform wäre dann über eine zweite Einwanderungswelle aus Ostasien über die gleiche Route nach Amerika gekommen.
Die Besiedlung Amerikas lief komplexer ab als bisher dargestellt
„Die Annahme einer zweifachen Besiedlung Amerikas ist nicht neu. Doch haben wir zum ersten Mal die verschiedenen Szenarien aus der Literatur formal geprüft, um festzustellen, mit welchem sich die Unterschiede zwischen frühen und späten Gruppen in Amerika am besten erklären lassen“, schreiben die Autoren. Dagegen sprachen die Ergebnisse früherer genetischer Untersuchungen eher für eine einmalige Besiedlung des Kontinents. Zur Einordnung der neuen Ergebnisse erklären die Wissenschaftler: „Wir machen mit unserer neuen Studie deutlich, dass die Prozesse, die zur Besiedlung Amerikas geführt haben, komplexer sind, als es zuvor häufig dargestellt wurde.“