Wenn der erste Spatenstich für die ICE-Neubaustrecke auf der Querfurter Platte erfolgt, so geht damit in diesem Bereich auch eine äußerst fruchtbare Zusammenarbeit ihrem Ende entgegen: Die enge Kooperation der im Auftrag der Deutschen Bahn AG handelnden DB ProjektBau, der TDE – Mitteldeutsche Bergbau Service GmbH und des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, das seit September 2008 im Bereich der künftigen ICE-Trasse Erfurt – Halle/Leipzig Ausgrabungen durchführt. Diese Untersuchungen, die seit Jahresende 2009 parallel zu den Bauarbeiten verlaufen, werden Ende Juni 2010 termingerecht abgeschlossen sein.
Damit wird ein Schlusspunkt unter die äußerst vertrauensvolle und erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Archäologie und Deutscher Bahn gesetzt, die jedoch noch weiter, genauer: ganze 16 Jahre zurück reicht: Seit 1994 sind entlang des 64 km langen Streckenabschnittes im Süden Sachsen-Anhalts 27 Fundstellen untersucht worden. Die z. T. mehrere Dutzend Hektar großen Untersuchungsbereiche liegen zwischen dem Finnegebirge im Westen und der Landesgrenze zu Sachsen im Osten. Insgesamt wurde im genannten Zeitraum eine Fläche von mehr als 140 ha untersucht, ca. 15.000 Befunde dokumentiert und weit über 400.000 Fundstücke geborgen. Allein in der von September 2008 bis Juni 2010 laufenden Maßnahme waren in Spitzenzeiten bis zu 150 Mitarbeiter beschäftigt. In diesem Zeitraum wurde zwischen Unstrut und Saale eine Fläche von insgesamt 100 ha untersucht, die annähernd 10.000 Befunde mit mehr als 100.000 Einzelfunden erbrachte.
400 m langer Weg aus der Bronzezeit
Bereits vor Beginn der archäologischen Untersuchungen war bekannt, dass die geplante ICE-Trassenführung im Süden Sachsen-Anhalts in Teilen einer alten, historischen Wegeverbindung zwischen dem Thüringer Becken und dem Raum Halle-Leipzig-Merseburg entspricht, der später so genannten Wein- und Kupferstraße. Dieses Wissen wird nun durch einen Befund ergänzt, der diese Wegeverbindung bereits für die prähistorische Zeit archäologisch belegt. So wurden in den letzten Wochen in Oechlitz (Saalekreis) Abschnitte dieser prähistorischen Wegeführung über eine Distanz von ca. 400 m nachgewiesen – ein außerordentlicher Glücksfall. Einem heutigen Feldweg vergleichbar, zeichnen sich die zwei Fahrspuren des Weges deutlich im Gelände ab. Bronzefunde aus dem Hohlweg, der immer wieder ausgebessert wurde, beweisen, dass er bereits in der Zeit um 1.600 v. Chr., der Zeit der berühmten Himmelsscheibe von Nebra, intensiv genutzt wurde.
Siedlungsspuren und Bestattungen aus sieben Jahrtausenden
Insgesamt repräsentieren die durch die ICE-Trassengrabung ans Licht gebrachten Befunde und Funde nahezu alle Epochen der sesshaften Menschheitsgeschichte Mitteleuropas seit 5.500 v. Chr.
Siedlungsbefunde unterschiedlichster Art wie Pfostenbauten, Öfen, Vorrats- und Abfallgruben belegen die Ansiedlung von Menschen seit der Zeit der sog. Linienbandkeramischen Kultur (ca. 5.500–4.800 v. Chr.), der frühesten Bauernkultur Mitteleuropas. Einen ganz besonderen Stellenwert unter den Siedlungsbefunden nimmt eine Siedlung der späten Bronzezeit (1.200–800 v. Chr.) bzw. frühen Eisenzeit (800–500 v. Chr.) ein, die in der Gemarkung Wetzendorf / Wennungen entdeckt wurde: Von mehreren Wall-Graben-Systemen umschlossen, nahm sie eine Gesamtfläche von ca. 90 ha ein und war damit etwa so groß wie die historische Altstadt von Halle. Die ausgesprochen reichen Funde aus dieser Siedlung ermöglichen zudem einen einzigartigen Einblick in das alltägliche Leben und die handwerkliche Spezialisierung ihrer Bewohner.
Auch die etwa 1.000 seit den 90er Jahren untersuchten Bestattungen tragen dazu bei, die Lebensumstände unserer Vorfahren zu erhellen. Überwiegend stammen sie aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend und lassen sich der Schnurkeramischen Kultur (ca. 2.800–2.100 v. Chr.) bzw. der Glockenbecherkultur (ca. 2.400–2.100 v. Chr.) zuordnen. Erinnert sei hier nur an einige der bei Oechlitz aufgedeckten Gräber der Schnurkeramischen Kultur, die neben Gefäßbeigaben Kupfer- und Bernsteinobjekte, durchbohrte Tierzähne und aus Muschelscheiben gefertigte ,Pailletten‘ enthielten und so andeuten, in welch reich verzierter Kleidung einzelne Verstorbene zur letzten Ruhe gebettet wurden. Für die Archäologen bedeutsam ist aber auch die große Anzahl an verzierten und unverzierten Glockenbechern, jenen umgekehrt glockenförmigen Gefäßen, der die jungsteinzeitliche Glockenbecherkultur ihren Namen verdankt: In den Gräbern bei Oechlitz kamen sie in ungewohnter Häufigkeit ans Licht. Weitere Bestattungen – darunter auch Tier- und Mehrfachbestattungen – belegen die Siedlungstätigkeit des Menschen auf der Querfurter Platte von der frühbronzezeitlichen Aunjetitzer Kultur (ca. 2.300–1.600 v. Chr.) bis ins Hochmittelalter (10. bis 11. Jahrhundert).
Differenzierte prähistorische Kulturlandschaft
Die große Bandbreite der Spuren archäologischer Kulturen und die Zahl und Qualität der einzelnen Funde belegen die hohe Bedeutung, die der Region seit Tausenden von Jahren nicht nur als Siedlungsgebiet, sondern auch als Verkehrsroute zukommt. Der infrastrukturell wichtige Ausbau der ICE-Strecke durch die Deutsche Bahn AG bot für die Archäologie Sachsen-Anhalts die einmalige Chance, die Siedlungsgeschichte einer ganzen Region auf einem fast vollständig untersuchten Teilstück zu dokumentieren und die Kulturgüter vor der Zerstörung zu bewahren.
Kurz vor dem Abschluss der Grabungstätigkeit ziehen die Archäologen das Resümee, dass die ICE-Trassengrabung einen vollkommen neuen und äußerst aufschlussreichen Einblick in die Dimensionen prähistorischer Landschaftsgestaltung erbracht hat. Nur aufgrund der Größe der vorgenommenen Einschnitte war es möglich, Monumente wie das etwa 20 ha große Gräberfeld bei Oechlitz oder die schon erwähnte Siedlung bei Wennungen zu dokumentieren, bei der es sich sicherlich um einen die Umgebung beherrschenden Zentralort gehandelt hat. Erstmals lässt sich abschätzen, wie Monumente wie diese jeweils zu ihren Zeiten die Landschaft geprägt und dominiert haben müssen. Ebenso konnten weiträumige Landschaftsgliederungen, wie Gräben, Wälle und Flurgrenzen erstmals über größere Flächen und Strecken hinweg beobachtet werden. In diesen Zusammenhang fallen etwa die Landgräben und Grubenreihen der jüngeren Bronze- und frühen Eisenzeit (ca. 1.200–600 v. Chr.), deren verzweigtes Netz aus ursprünglich insgesamt mehr als 10.000 km langen Gräben bzw. Grubenreihen die Landschaft Mitteldeutschlands überzieht und deren Funktion noch nicht abschließend geklärt werden konnte. Die Grabungen auf der Querfurter Platte ermöglichen es in einem bisher unbekannten Umfang, eine eigenständige prähistorische Kulturlandschaft, die der heutigen Kulturlandschaft durchaus in nichts nachsteht, in ihrer Gesamtheit und all ihrer Differenziertheit zu erfassen.
Beispielhafte Zusammenarbeit
Damit belegen die Grabungsergebnisse neben der wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Relevanz des Streckenneubaus zwischen Erfurt und Halle/ Leipzig bereits jetzt die hohe wissenschaftliche Bedeutung der Ausgrabungen für die Region. Die dokumentierten und geborgenen Befunde und Funde bilden eine breite Basis für weiterführende Untersuchungen, die noch mancherlei Aufschluss und Einblick in die Lebens- und Jenseitsvorstellungen der damaligen Gemeinschaften erwarten lassen. Daneben und nicht zuletzt können die Grabungen im Bereich der künftigen ICE-Trasse als beispielhaft gelten im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit einem Bauherrn, der seinen Verpflichtungen zum Erhalt unseres kulturellen Erbes in idealer Weise und mit stetem Interesse nachkam.