Lange galt Homo sapiens sapiens als erste Menschenform, die sich künstlerisch betätigte. Neanderthaler hatten keinen Sinn für Dinge, die nicht unmittelbar für das Überleben wichtig waren, so schien es. Doch immer mehr Indizien deuten darauf hin, dass auch schon Homo neanderthalensis einen Sinn für Symbolik hatte.
Ein weiteres Indiz haben der Anthropologe Eugène Morin von der Trent University im kanadischen Peterborough und die französische Archäozoologin Véronique Laroulandie von der Université Bordeaux jetzt im Online-Fachmagazin PLoS ONE veröffentlicht. Die Wissenschaftler untersuchten Vogelknochen von mittelpaläolithischen Fundstellen in Südwestfrankreich. Bei Combe Grenal war aus einer 90.000 Jahre alten Schicht die Kralle eines Steinadlers ans Licht gekommen, die von einem Steinwerkzeug verursachte Schnittspuren aufwies. Das Zehenglied war zu einer Zeit vom Fuss des Vogels abgeschnitten worden, als der moderne Mensch noch nicht in diese Gegend Europas vorgedrungen war. Ähnliche Spuren zeigt auch eine andere Adlerkralle aus einer 40.000 Jahre alten Schicht in der Höhle von Les Fieux.
Beim Vergleich mit anderen Vogelkochenfunden aus dem Mittelpaläolithikum fiel den Forschern auf, dass die weit überwiegende Zahl von Knochen mit Schnittspuren von Greifvögeln stammen. Und bei ausnahmslos allen Greifvogelknochen mit Schnittmarken handelt es sich um Flügel- und Fussknochen. Morin und Laroulandie vermuten daher, dass die Raubvögel eher nicht als Nahrung dienten, sondern deren Flügel und Krallen vielmehr symbolische Bedeutung für die Neanderthaler gehabt haben könnten.