Menschliche Mobilität und die frühen Staaten im Vorderen Orient

Archäogenetische Analysen an prähistorischen Menschen aus Anatolien, der nördlichen Levante und des Südkaukasus beleuchten die Bevölkerungsdynamik von der Jungsteinzeit bis zur Bronzezeit. Durch die Analyse der Genome von 110 Menschen, die zwischen 7.500 bis 3.000 Jahren vor unserer Zeit in dieser Region lebten, wirft die Studie ein neues Licht auf menschliche Mobilität und die Verbreitung von Ideen und materieller Kultur vor und während der Entstehung einiger der frühesten Staaten der Welt.

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Keramikfunde aus Arslantepe, die Keramikfunden aus Mesopotamien ähnlich sind
Keramikfunde aus Arslantepe, die Keramikfunden aus Mesopotamien ähnlich sind (Palastperiode) (© Italienische archäologische Mission in Ostanatolien, Sapienza Univ. von Rom)

Die Region vom Südkaukasus bis Anatolien und Mesopotamien war über Jahrtausende eine Drehscheibe für den Austausch von Ideen und Gütern. Welche Rolle menschlicher Mobilität beim Wandel der bäuerlichen Gemeinschaften zu komplexen Gesellschaften zukam, ist jedoch noch weitgehend unbekannt. Beruht diese Entwicklung in erster Linie auf dem Austausch und der Verbreitung von Ideen und materiellen Gütern, oder war sie auch mit umfangreicher Mobilität von Bevölkerungsgruppen verbunden?

Um diese Frage zu beantworten, analysierte ein internationaler Verbund von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter der Leitung des Jenaer Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte und des Max-Planck-Harvard Forschungszentrums für die archäologisch-naturwissenschaftliche Erforschung des antiken Mittelmeerraums (MHAAM) das Erbgut von 110 Individuen aus archäologischen Fundorten in Anatolien, der nördlichen Levante und dem Südkaukasus. Das Alter der Proben wurde auf zwischen 7.500 und 3.000 Jahren datiert. Die Ergebnisse der Analyse weisen auf zwei einflussreiche genetische Ereignisse sowie auf individuelle Mobilität über weite Distanzen hin.

Während des späten Neolithikums, vor etwa 8.500 Jahren, begannen sich die Gemeinschaften in Anatolien und im Südkaukasus genetisch zu vermischen. Diese neue, gemeinsame genetische Signatur breitete sich dann im Laufe der Zeit über die gesamte Region aus. Diese großräumige genetische Vereinheitlichung von Nord- und Zentralanatolien bis hinein in den Südkaukasus und den heutigen Nordiran weist nach Ansicht des Forschungsteams auf eine anhaltende hohe Mobilität der Menschen hin.

"Die schnelle genetische Homogenisierung Anatoliens zeigt, dass sich die damaligen Menschen innerhalb Westasiens biologisch vermischten, noch bevor soziokulturelle Entwicklungen in den archäologischen Funden sichtbar wurden", sagt Johannes Krause, Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und Direktor des MHAAM.

Im Gegensatz zur frühen genetischen Homogenisierung Anatoliens konnte das Forschungsteam für die nördliche Levante eine Zuwanderung neuer Bevölkerungsgruppen feststellen. "In den bronzezeitlichen Populationen der frühen städtischen Zentren Alalakh und Ebla in der heutigen Südtürkei und Nordsyrien konnten wir neue genetische Spuren nachweisen, die nur durch den Einfluss von externen Gruppen zu erklären sind", sagt Eirini Skourtanioti, Erstautorin der Studie.

Diese Einblicke sind besonders deshalb spannend, weil die Forschung heute davon ausgeht, dass der Vordere Orient um 2200 v. Chr. von einer enormen Dürre heimgesucht wurde, ein katastrophales Klimaereignis, dessen Auswirkung auf menschliche Mobilität noch gar nicht richtig verstanden ist. Archäologische Funde zeigen, dass in dieser Zeit Flüsse austrockneten, Siedlungen aufgegeben wurden und antike Texte berichten über die Migration von Bevölkerungsgruppen wie "Amoritern" und "Hurritern". Woher die Einwanderer an die nördliche Levante kamen, können die Forscher nur vermuten. Nahe liegt hier Mesopotamien, der heutige Irak, aus dem bislang jedoch noch kaum alte menschliche Genome bekannt sind.

Abgesehen von den großräumigen genetischen Entwicklungen konnte das Forschungsteam aber auch Hinweise auf individuelle Mobilität über weite Strecken finden. In der bronzezeitlichen Stadt Alalakh in der Südtürkei entdeckte das Team eine Frau, deren genetisches Profil auf eine Herkunft aus Zentralasien hinweist. Die Frau oder ihre Vorfahren waren also über weite Regionen bis an die Levante gezogen. Während alle übrigen von den Wissenschaftler/-innen ausgewerteten Individuen der Stadt aus regulären Gräbern stammten, war diese Frau zuvor von den Ausgräbern auf dem Grunde eines Brunnens gefunden worden, in den sie ganz offensichtlich vor ca. 3600 Jahren hineingeworfen worden war.

"Ich war fasziniert von unseren Erkenntnissen über die 'Frau im Brunnen'", sagt Philipp Stockhammer, Ko-Direktor des Max-Planck-Harvard Forschungszentrums und ein weiterer leitender Autor der Studie. "Sie ermöglicht einen einzigartigen Einblick in individuelle Mobilität über große Entfernungen. Aus literarischen Quellen wissen wir, dass Frauen in dieser Zeit durch den Vorderen Orient reisten - sehr oft als Ehepartnerinnen. Die Lebensgeschichte und das Schicksal dieser Frau zentralasiatischer Herkunft wird jedoch ein Rätsel bleiben".

Der Kontext dieses Fundes wirft zahlreiche Fragen auf, von denen viele selbst mit den modernsten Analysewerkzeugen nicht beantwortet werden können. Wie sind diese Frau und/oder ihre unmittelbaren Vorfahren von Zentralasien in die nördliche Levante gelangt? Wurde sie gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen? Was war ihre Rolle in der Gesellschaft, und starb sie durch einen Unfall oder wurde sie ermordet? Unabhängig von all den Fragen zeigt diese Frau, welche großen Entfernungen die Menschen in der Vergangenheit zurücklegten und weist auf die Existenz von Migrantengemeinschaften in einer globalisierten alten Welt hin.

Kupfer-Silber-Diadem mit transkaukasischem Bezug aus dem Prunkgrab in Arslantepe, Osttürkei
Kupfer-Silber-Diadem mit transkaukasischem Bezug aus dem Prunkgrab in Arslantepe, Osttürkei (© Italienische archäologische Mission in Ostanatolien, Sapienza Univ. von Rom)
Publikation

Eirini Skourtanioti, Yilmaz S. Erdal, Marcella Frangipane, Francesca Balossi Restelli, K. Aslıhan Yener, Frances Pinnock, Paolo Matthiae, Rana Özbal, Ulf-Dietrich Schoop, Farhad Guliyev, Tufan Akhundov, Bertille Lyonnet, Emily L. Hammer et al.

Genomic history of Neolithic to Bronze Age Anatolia, Northern Levant and Southern Caucasus

Cell. 28.5.2020
DOI: 10.1016/j.cell.2020.04.044

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