In der Antike wurden Tonscherben in großen Mengen als Schreibmaterial genutzt, beschriftet wurden sie mit Tusche und einem Schreibrohr (Kalamus). Eine derart große Menge an Funden ist in Ägypten erst einmal gelungen, in der Arbeitersiedlung Deir el-Medineh, die im alten Ägypten nahe des Tals der Könige in Luxor lag. Die nun geborgenen Ostraka geben vielfältige Einblicke in das Alltagsleben der antiken Siedlung Athribis, knapp 200 Kilometer nördlich von Luxor.
Rund 80 Prozent der Tonscherben sind in Demotisch beschriftet, der gängigen Verwaltungsschrift in der Ptolemäer- und Römerzeit, die sich seit etwa 600 v. Chr. aus dem Hieratischen entwickelt hatte. Zu den zweithäufigsten Funden zählen Ostraka mit griechischer Schrift, das Team stieß aber auch auf Beschriftungen in hieratischer, hieroglyphischer und - weit seltener - koptischer und arabischer Schrift. Als besondere Kategorie habe man zudem Bildostraka entdeckt, sagt Christian Leitz. "Diese Tonscherben zeigen verschiedene figürliche Darstellungen, darunter Tiere wie Skorpione und Schwalben, Menschen, Götter aus dem naheliegenden Tempel bis hin zu geometrischen Figuren."
Die Inhalte der Ostraka variieren von der Auflistung verschiedener Namen bis zu Abrechnungen unterschiedlicher Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Eine erstaunlich große Anzahl Scherben habe sich einer antiken Schule zuordnen lassen, so das Forschungsteam. „Es gibt Listen von Monatsnamen, Zahlen, Rechenaufgaben, Grammatikübungen und ein sogenanntes Vogelalphabet ‒ jedem Buchstaben wurde ein Vogel zugeordnet, dessen Namen mit diesem Buchstaben begann.“ Eine dreistellige Anzahl an Ostraka enthält zudem Schreibübungen, die das Team als Strafarbeiten einordnet: Die Scherben sind mit den immer gleichen ein oder zwei Zeichen beschrieben, sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite.
Die Tübinger Ägyptologie arbeitet bereits seit 2003 in Athribis, ab 2005 im Rahmen eines 15-jährigen Forschungsprojekts und mit Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Ziel war die Freilegung und Publikation eines großen Tempels, der von Ptolemaios XII., dem Vater der berühmten Kleopatra VII. errichtet wurde. Dieses Projekt ist mittlerweile abgeschlossen, der Tempel ist jetzt für Besucher geöffnet. Das Heiligtum wurde vor etwa 2000 Jahren für die Löwengöttin Repit und ihren Gemahl Min errichtet und wurde nach dem Verbot heidnischer Kulte im Jahr 380 n. Chr. zu einem Nonnenkloster umfunktioniert. Seit dem Frühjahr 2018 wird westlich des Tempels nach einem weiteren Heiligtum gegraben, dabei stieß das Team in den Schuttmassen auf die zahlreichen Ostraka. Die Grabungen dazu werden kontinuierlich fortgesetzt.
Grabungsleiter Marcus Müller steht vor Ort mit zunehmender Tiefe vor immer anspruchsvolleren Aufgaben: Im Westen der Grabungsfläche treten mittlerweile mehrstöckige Gebäude mit Treppen und Gewölben zu Tage, der Rest der Fläche wurde im Lauf der Jahrhunderte mit Schutt aufgefüllt Die Auswertung der Ostraka durch ein internationales Team, zumeist aus Frankreich und Deutschland, koordiniert Sandra Lippert, Forschungsleiterin am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris. Die Bildostraka werden von Carolina Teotino an der Universität Tübingen erforscht. Die Grabungen werden finanziell unterstützt durch die Gerda-Henkel-Stiftung, der Brunner-Stiftung und der Stiftung Humanismus.