"Solche massenhaften Siegelweihungen sind aus keinem vergleichbaren Heiligtum bekannt", teilten Grabungsleiter Prof. Dr. Engelbert Winter und Archäologe Dr. Michael Blömer zum Ende der Grabungssaison mit. Der Fund der zahlreichen Stücke aus dem 7. bis 4. Jahrhundert vor Christus nahe der antiken Stadt Doliche sei insofern einmalig. "Die erstaunlich hohe Anzahl belegt, wie wichtig Siegel und Amulette für die Verehrung des Gottes waren, dem sie als Votivgaben geweiht wurden", so Altertumswissenschaftler Winter. Viele der Stücke zeigen Anbetungsszenen. "Dadurch geben sie einen überraschend lebendigen und detaillierten Einblick in die damalige Glaubenswelt." Die Stempel- und Rollsiegel sowie Skarabäen sind aus Glas, Stein und Quarzkeramik gefertigt und oft hochwertig verarbeitet. Nach Restaurierungsarbeiten wurden die Funde an das zuständige Museum im türkischen Gaziantep übergeben.
Auf den Siegeln und Amuletten sind unterschiedliche Motive zu finden: Das Spektrum reicht von geometrischen Ornamenten und Astralsymbolen bis zu aufwändigen Tier- und Menschendarstellungen. Dazu gehören etwa betende Männer vor Göttersymbolen. Beliebtes Motiv war auch ein königlicher Held im Kampf mit Tieren und Mischwesen. "Auch die Bilder, die nicht eine Gottheit darstellen, drücken eine starke persönliche Frömmigkeit aus: Mit ihren Siegeln weihten die Menschen ihrem Gott ein Objekt, das eng mit der eigenen Identität verbunden war", so Blömer. Die bei den Siegeln gefundenen Amulette trugen die Menschen im Alltag. "Auf Ketten aufgezogen, sollten sie Unglück abwehren", erläuterte der Archäologe.
Identifizieren konnten die Forscher bislang spätbabylonische, lokale syrische, achämenidische und levantinische Siegel. "Die zahlreichen Fundstücke geben der Forschung neue Impulse, um offene Fragen der Kultpraxis, Kultkontinuität und Kultverbreitung zu beantworten – vor allem für die Kenntnis der bis vor kurzem unbekannten Frühgeschichte des Heiligtums im 1. Jahrtausend vor Christus sind sie wichtig", so Prof. Winter. Iuppiter Dolichenus wurde dann im 2. Jahrhundert nach Christus zu einer der bedeutendsten Gottheiten des Römischen Reiches.
Bei den diesjährigen Grabungen auf dem türkischen Berg Dülük Baba Tepesi grub das Team eine Fläche von mehr als 500 Quadratmetern aus. "Die Ergebnisse erweitern bereits jetzt unser Wissen über sämtliche Phasen der langen Geschichte dieses heiligen Ortes. Sie erstreckt sich vom frühen Kultplatz der Eisenzeit zum reichsweit bekannten Heiligtum der römischen Epoche bis zur langen Zeit der Nutzung als christliches Kloster, das bis in die Kreuzfahrerzeit existierte", so Prof. Winter. Besonders ergiebig sei die zweimonatige Kampagne für die Frühzeit des Heiligtums gewesen. "Auf dem zentralen Gipfelplateau sind neben einem gut erhaltenen Abschnitt der mächtigen eisenzeitlichen Umfassungsmauer erstmals auch Teile von Bauten des 7. bis 4. Jahrhunderts vor Christus innerhalb der Umfriedung freigelegt worden." Neufunden wie Säulen oder Kapitellen, die in die römische Epoche datieren, sei es zu verdanken, dass nun der Haupttempel des kaiserzeitlichen Heiligtums rekonstruiert werden könne. Rätsel hingegen gibt nach Aussage der Wissenschaftler noch der Standort des Tempels auf.
Nach dem Ende der diesjährigen Grabungssaison wird weiter an der touristischen Erschließung des Areals gearbeitet. "Einen Besucherpfad mit dreisprachiger Beschilderung, der zu zentralen Bereichen innerhalb des Grabungsgeländes führt, konnten wir fertig stellen." Zudem sind zahlreiche Sicherungs- und Schutzmaßnahmen erforderlich, um die Reste des Heiligtums sowie des Klosters dauerhaft zu sichern, wie die Wissenschaftler sagten. Ein erster großer Schutzbau konnte bereits in diesem Jahr errichtet werden.
2012 hatte das Forscherteam einen Archäologischen Park angekündigt, der die bedeutende Tempelanlage und die dortige mittelalterliche Klosterruine des Mar Salomon einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen soll. Dazu waren die Ruinen den Forschern zufolge bereits konserviert und mit einem Spezial-Vliesstoff ummantelt worden. Die Durchführung der aufwändigen wie kostenintensiven Schutzmaßnahmen ist durch eine Kooperation mit der türkischen Zirve-Universität in Gaziantep möglich geworden, die rund 200.000 Euro für drei Jahre zur Verfügung stellte, wie Prof. Winter sagte. Zur digitalen Dokumentation des Geländes erhielt das Team Unterstützung vom Institut für Geoinformatik der Uni Münster, wo ein Quadrocopter, ein ferngesteuertes Fluggerät, mit 3D-Kamera entwickelt worden war.
Die Forschungsstelle Asia Minor der Universität Münster gräbt unter der Leitung von Prof. Winter seit 2001 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Hauptheiligtum des Iuppiter Dolichenus. Die internationale Gruppe aus Archäologen, Historikern, Architekten, Restauratoren, Archäozoologen, Geoinformatikern und Grabungshelfern legte Fundamente des archaischen und des römischen Heiligtums, ebenso des mittelalterlichen Klosters des Mar Salomon frei, das zuvor nur aus Schriftquellen bekannt war. Das Projekt B2-20 des Exzellenzclusters "Mediale Repräsentation und 'religiöser Markt': Sichtbarkeit, Selbstdarstellung und Rezeption syrischer Kulte im Westen des Imperium Romanum" ist mit der Grabung vernetzt.