ICE-Trasse Erfurt-Halle/Leipzig: Siedlungsreste und Bestattungen aus zwei Jahrtausenden
Von August 2007 bis Mai 2009 führte das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt entlang der ICE-Neubaustrecke Erfurt-Halle/Leipzig in der Gemarkung Wetzendorf/Wennungen zwischen Bibratunnelportal und Unstruttalbrücke großflächige Ausgrabungen durch. Dank der hervorragenden Zusammenarbeit mit dem Investor Deutsche Bahn (DB ProjektBau) und der Baufirma Johann Bunte Bauunternehmung GmbH & Co. KG konnte eine Fläche von ca. 30 ha untersucht und auf einer Länge von 2,5km etwa 4.200 Befunde aufgedeckt werden. Aufgrund dieser hohen Befunddichte wuchs das Ausgrabungsteam
von anfangs 12 Mitarbeitern auf zuletzt 52 Mitarbeiter – Archäologen, Grabungstechniker und Grabungshelfer – an.
Die ältesten Befunde in der Gemarkung Wetzendorf/Wennungen stammen aus der späten Jungsteinzeit. Es handelt sich um Zeugnisse der schnurkeramischen Kultur (2.800–2.100 v. Chr.) in Form von Hausgrundrissen, Siedlungsgruben und vor allem 53 Gräbern, die sich über den gesamten untersuchten Bereich zwischen Bibratunnelportal und Unstruttalbrücke verteilten. Hervorzuheben sind hier einige besonders reich ausgestattete
Gräber, die verschiedene Keramikgefäße, von kleinen Bechern bis zu großen Amphoren, Knochenwerkzeuge und Schmuck in Form von Muschelscheiben- »Pailletten« enthielten.
Auch die etwa gleichzeitige Glockenbecherkultur (2.500–2.000 v. Chr.), deren Vertreter teilweise in Konkurrenz zu den Angehörigen der schnurkeramischen Kultur standen, ist im untersuchten Streckenabschnitt vertreten: Sie wird durch vier Steinkistengräber und sechs Körpergräber repräsentiert. Unter den Grabbeigaben besonders erwähnenswert sind drei verzierte Glockenbecher – Gefäße jener typischen umgekehrten Glockenform, der die
Kultur ihren Namen verdankt. Die Glockenbecherkultur bildet den Übergang vom späten Neolithikum hin zur frühen Bronzezeit. Diese war in Mitteldeutschland durch die Aunjetitzer Kultur (2.200–1.600 v. Chr.)
geprägt, die Zeit der berühmten Himmelsscheibe von Nebra. Im Bereich der gesamten Trasse fanden sich Hausgrundrisse, Siedlungsgruben und Gräber dieser Epoche. Während die Gräber typische Keramikgefäße der Aunjetitzer Kultur sowie bronzene Trachtbestandteile, wie etwa Ösenkopfnadeln, enthielten, ist unter den Funden aus den Siedlungsgruben eine Vielzahl an Webgewichten bemerkenswert.
Die frühbronzezeitlichen Befunde wurden teilweise durch eine Siedlung der späten Bronzezeit (1.200–800 v. Chr.) bzw. frühen Eisenzeit (800–500 v. Chr.) überlagert. Reste eines Walls, der als Teil von mindestens drei Doppelgrabensystemen diese Siedlung umschloss, waren bis in die Neuzeit als Bodenerhebung sichtbar. Darauf deutet die Erwähnung der »Wennunger Schanzen« hin, die im Bereich der flach ansteigenden Lößhänge des westlichen Unstruttals lagen und noch in historischen Quellen des 19. Jahrhunderts auftauchen. Zwei dieser Wall-Graben-Systeme weisen Torsituationen bzw. Durchgänge auf, die – wie Wagenspuren beweisen – ebenfalls bis in die Neuzeit sichtbar und in Benutzung waren. Die Siedlung, die sich innerhalb dieser Doppelgräben ausdehnte, besaß eine Gesamtfläche von ca. 9oha und war damit etwa so groß wie die heutige Innenstadt von Halle.
Vorstellungen vom Leben der Menschen in der Siedlung ermöglichen die reichen Funde, die aus zahlreichen Siedlungsgruben geborgen wurden. Bemerkenswert ist insbesondere die hohe Anzahl von mehr als 110 Bronzeobjekten, die innerhalb der Siedlung zutage kamen. Darunter sind bronzene Schmuck- und Trachtbestandteile, wie Gewandnadeln, Ringe, Fibeln und Zierscheiben. Werkzeuge wie Punzen, Meißel und Ahlen, aber auch Gussformen für die Herstellung von Bronzegeräten und -waffen sowie die Reste eines Salzsiedeofens belegen nicht nur alltägliche Arbeiten, sondern auch handwerkliche Spezialisierung.
Ein besonderes Stück schließlich führt bereits in die Eisenzeit (800–400 v. Chr.): eine bronzene Gewandnadel, die ihre Pendants in dem Grab einer »Fürstin« in Halle-Trotha findet. Im Gegensatz zu den beiden Nadeln, die in diesem außerordentlich reich mit Schmuckstücken ausgestatteten Grab gefunden wurden, stammt die Wennunger Nadel aus einer Siedlungsgrube, die sonst ausschließlich Keramik enthielt. So ermöglichen die Funde aus der Wennunger Siedlung einen aufschluss- und facettenreichen Einblick in den Alltag der Bevölkerung, die vor etwa 3ooo Jahren an dieser Stelle ansässig war.
Wie auch an anderen Stellen der ICE-Neubaustrecke, so machen auch die Ergebnisse der archäologischen Ausgrabungen in Wennungen deutlich, welch große Bedeutung dieser und ähnlichen Infrastrukturmaßnahmen nicht nur für die wirtschaftliche Entwicklung der Region, sondern auch für unser Bild von der Besiedlungsgeschichte Mitteldeutschlands zukommt. Diesbezüglich führen die Erkenntnisse aus den archäologischen Untersuchungen immer wieder den außerordentlichen kulturellen Reichtum und die bereits jahrtausende alte Bedeutung dieser Region als Siedlungsraum und Kreuzungsbereich wichtiger Verkehrsrouten vor Augen.