Die magische Gottheit ist ein echter »Multikulti«: Seine markante Bildgestalt mischt griechische, jüdische und altägyptische Elemente. Sein spezifischer Name war »IAO«, also die griechische Transposition des hebräischen Gottesnamens »JHWH«. In antiken Quellen ist als sein Beiname »Abrasax« (so die griechische Form, lateinisch mit Buchstabendreher: Abraxas) besonders geläufig, weil sich nach der griechischen Buchstabenmystik daraus die Zahl 365 ableiten lässt. »Das entspricht der Zahl der Tage eines Jahres und ist ein Symbol für das Allumfassende«, sagt der Ägyptologe Prof. Dr. Ludwig D. Morenz von der Universität Bonn.
Der Forscher untersuchte antike Gemmen, auf denen der hahnenköpfige Schlangenfüßler prominent abgebildet ist. Bei »Gemmen« handelt es sich um handliche, meist zwei bis fünf Zentimeter große geschnittene Steine, in denen Darstellungen eingraviert sind. »Die Anfänge der Gestalt gehen vermutlich auf das zweite Jahrhundert nach Christus zurück«, so Morenz. »Offenbar wird IAO eine Allmacht über Zeit und Raum zugeschrieben – wie einem Gott der Magie ohne allerdings wirklich eine geglaubte und verehrte Gottheit zu sein.«
Denn während Gottheiten wo irgend möglich mit prominenten Darstellungen »verewigt« wurden, ist das Mischwesen zwar auf hunderten handlichen Gemmen überliefert, fehlt aber auf großflächigen Darstellungen in Tempeln und anderen Gebäuden, hatte keine Kultbilder. »Eine IAO-Abraxas-Gemme wurde offensichtlich als Amulett mitgeführt, um Böses und Krankheiten von den Menschen abzuwenden«, sagt der Ägyptologe. Die Menschen suchten offenbar bei einer personifizierten Allmacht Schutz. Dieses Ritual wich vom herkömmlichen Götterkult ab.
Beistand ohne Wenn und Aber
»Normalerweise muss sich der ins Dasein geworfene Mensch den Göttern fügen und deren Gebote beachten«, erläutert Morenz. Die Chimäre sei dagegen erschaffen worden, um dem Menschen ohne Wenn und Aber in Notsituationen Beistand zu leisten. »Deshalb versprachen sie sich davon eher göttliche Magie als einen herrschenden Gott.« Auffällig ist auch die Verbindung von Bild und Schrift: Der griechische Gottesname »IAO« (= hebräisch Jahwe) wird in der Mischgestalt durch formale Ähnlichkeit umgesetzt mit den Bildelementen Hahnenkopf (I), die menschliche Gestalt (A) und die Schlangenbeine (O). »Durch diese bildliche Umsetzung des Namens wird die Symbolik nochmals verstärkt«, sagt der Wissenschaftler, »weil die Bildelemente beim antiken Betrachter mythologische Vorstellungen erweckten«.
Gemmen mit dem magischen Mischwesen waren in der Antike weit verbreitet. Sie wurden in großem Stil hergestellt und gehandelt, zahlreiche Handwerker und Händler verdienten mit den Amuletten Geld. Während der Renaissance, als die kulturellen Leistungen der Antike wieder im Vordergrund standen, erfuhren auch die Gemmen eine Wiedergeburt, wenn auch teils als Fälschungen.
Als »Abraxas« lebte die Chimäre sogar in Johann Wolfgang von Goethes »West-östlicher Divan« wieder auf: »Doch Abraxas bring ich selten! Hier soll meist das Fratzenhafte, Das ein düstrer Wahnsinn schaffte, Für das Allerhöchste gelten. Sag« ich euch absurde Dinge, Denkt, dass ich Abraxas bringe.« Über die Jahrhunderte wandelte sich der hahnenköpfige Schlangenfüßler vom magischen Helfer zum Dämon. »Ursprünglich steht das Mischwesen IAO aber für den menschlichen Wunsch nach Externalisierung von Ängsten, indem einer magischen Allmacht, die in Form von Symbolen und Metaphern dargestellt, die Lösung aller Probleme zugeschrieben wird«, sagt Morenz.
Die Studie entstand im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekt »Sinnüberschuss und Sinnreduktion von, durch und mit Objekten«, das sich mit der Krisenbewältigung innerhalb unterschiedlicher Kulturen befasst. Dazu gehören Rituale und Objekte, die eine schützende Wirkung entfalten sollten, genauso wie Handlungen, durch die Dinge zum materialisierten schlechten Omen wurden.