Am 14. September überreichte Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Dr. Frigga Kruse den mit einer Million Euro dotierten Freigeist-Fellowship bei einer feierlichen Übergabe in Hannover. Damit geht der Preis zum ersten Mal nach Kiel. Die Förderungsdauer beträgt fünf Jahre und kann um bis zu weitere drei Jahre verlängert werden.
Ziel des Forschungsprojekts ist, ein detailliertes und reflektiertes Gesamtbild über 420 Jahre Jagd auf die arktischen »Big Five« (Grönlandwal, Eisbär, Walross, Svalbard-Rentier und Polarfuchs) zu zeichnen. Zudem soll erfasst werden, wie die Auswirkungen auf das Ökosystem heute zu deuten sind und ob sich Tierbestände erholen. Dabei wird Kruse auch menschliche Spuren, kulturelle und soziale, erforschen. Der Ausgangspunkt liegt aber bei den Tieren.
Die »Kühle Küste«
Svalbard (Norwegisch für »Kühle Küste“), im deutschen Sprachraum besser bekannt als Spitzbergen, ist eine Inselgruppe aus über 400 Inseln und Schären im Nordatlantik. Sie zählt zur Arktis und wird von gerade einmal zweieinhalbtausend Menschen bewohnt. Naturvölker gab es hier nie. Aufgrund seines Reichtums an Pelzen und Häuten war Spitzbergen trotzdem interessant für die Bevölkerung. Erstes wirtschaftliches Interesse seitens der Europäer kam bereits 1596 auf, als der niederländische Seefahrer und Entdecker Willem Barents den Archipel als Erster kartographierte.
»Spitzbergen ist besonders interessant, weil es bis 1920 ‚Niemandsland' war und immer wieder von Norwegern, Niederländern, Russen, Deutschen, Franzosen, Spaniern und US-Amerikanern besiedelt wurde, die dort nahezu ungehindert jagen konnten oder Bergbau betrieben, trotz wiederkehrender Territorialstreitigkeiten«, erklärt dazu Kruse. Daher finden sich heute noch viele sichtbare Spuren, die Aufschluss über europäische Kulturen und Bräuche der letzten 420 Jahre geben. Seit 1920 regelt der Spitzbergenvertrag (seit 1925 rechtskräftig), dass Norwegen die Inseln verwalten darf. Heute sind mehr als 40 Staaten aus der ganzen Welt an dem Vertrag beteiligt, die dort alle das Recht auf Arbeit, Handel und Schifffahrt haben.
Eine Freigeistin für Kiel
Frigga Kruse ist ganz neu an der CAU. Bevor sie zum Freigeist-Fellow ernannt wurde und sich eine deutsche Universität aussuchen konnte, um ihr Projekt zu realisieren, lebte und arbeitete die gebürtige Schleswig-Holsteinerin 25 Jahre lang im Ausland. Den Schulabschluss machte sie an einer internationalen Schule im pazifischen Inselstaat Papua-Neuguinea. Es folgten ein Bachelorstudium der Archäologie und Geologie an der Universität Glasgow (Schottland) und ein Masterstudium der Forensischen Archäologie an der Bournemouth Universität (Südengland). Kruse promovierte anschließend an der Universität Groningen (Niederlande) und erhielt dort auch eine Postdoc-Stelle als polarhistorische Archäologin. Dort kam sie zum ersten Mal in Kontakt mit Spitzbergen. Anschließend zog es sie wieder nach Schottland, von wo aus sie seit 2015 zwischen Mai und September als Guide auf Expeditionskreuzfahrten durch Spitzbergen reist. Dabei setzt sie sich für nachhaltigen Arktistourismus ein und erforscht nebenbei die Gegend im kleinen Rahmen.
Von Schottland aus bewarb sie sich auf die Förderung durch die VolkswagenStiftung und begann, ein Forschernetzwerk in Deutschland aufzubauen. Schnell kristallisierte sich heraus, dass die CAU die richtige Wahl für sie war. »Das ÖSF, das Institut für Ur- und Frühgeschichte und das Referat für Forschungsförderung National an der CAU haben mich von der ersten Sekunde an in meiner Idee bestärkt und bereits während der Antragsstellung unterstützt. Da war es einfach, sich für die CAU zu entscheiden«, erzählt Kruse. »Außerdem wollte ich wieder zurück in meine Heimat.« Zu den Unterstützern zählen Professor Hans-Rudolf Bork (ÖSF), Professor Dieter Piepenburg (ÖSF und Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung), Professor Ulrich Müller vom Institut für Ur- und Frühgeschichte sowie Andreas Steinborn (Referat für Forschungsförderung National). Susan Barr vom International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) begleitet die Freigeistin als Mentorin. Neben ihrer Arktisforschung wird Kruse sich auch in der Lehre an der CAU einbringen und Studierende fachübergreifend unterrichten. Die Planung hierzu ist bereits in vollem Gange.
Naturwissenschaft mit Geisteswissenschaft verbinden
Nur Querdenkerinnen und Querdenker der Wissenschaft, die über die Grenzen der eigenen Fachdisziplin hinausblicken, können Freigeist-Fellows werden. Dazu muss kritisches Analysevermögen mit außergewöhnlichen Perspektiven und Lösungsansätzen verbunden werden. Kruse, die sich noch nie für nur eine Disziplin entscheiden konnte, fährt in ihrer wissenschaftlichen Karriere immer zweigleisig als Archäologin und Geologin. »Ich betrachte alles aus vielen Perspektiven und kann gut Verbindungen herstellen«, sagt sie. »Die Archäologie und die Geologie haben viele Überschneidungspunkte, beide Disziplinen beschäftigen sich mit historischen Entwicklungen. Die eine mit der der Menschen, die andere mit der des Planeten Erde.« Um also die ganzheitliche Entwicklung des Ökosystems in Spitzbergen der letzten 420 Jahre und den heutigen Ist-Zustand zu untersuchen, will sie möglichst viele Quellen analysieren. »Das geht nur, indem man interdisziplinär arbeitet und neben dem naturwissenschaftlichen auch den geisteswissenschaftlichen Blick auf die Forschung richtet«, so Kruse.
Archäologische Goldgrube
Bislang hatte Kruse lediglich im Zuge ihrer Postdoc-Stelle die Gelegenheit, einige archäologische Funde auf Spitzbergen näher zu untersuchen und eine kleine Misthaufengrabung im Jahr 2016 durchzuführen. Neue Stätten und Möglichkeiten tun sich während der Expeditionskreuzfahrten auf. »Ältere Jagdforschung auf Spitzbergen ist leider nur punktuell und nicht gerade umfangreich betrieben worden«, kritisiert sie. Deshalb will die Arktisforscherin bei der Datenerhebung systematisch und chronologisch vorgehen. Startpunkt ihrer Forschung ist somit das Jahr 1596, als alles begann. Um an detaillierte Jagddaten über die arktischen »Big Five« zu kommen, sichtet sie historische Funde wie Logbücher der Walfangindustrie, Tagebücher, Reiseberichte der Schiffsärzte und kaufmännische Bücher. Sie hält fest, welches Tier wann wie oft bejagt wurde. Vor allem aber greift sie auch auf Knochenfunde zurück. Tief graben muss sie dafür nicht, die archäologischen Funde liegen quasi einfach in der Gegend herum. So wie die Menschen sie hinterlassen haben. Teilweise sind sie von leichter Vegetation wie Gras und Moos bedeckt. Nur in den seltensten Fällen muss überhaupt gegraben werden, wegen des Permafrostbodens nur bis etwa 50 Zentimetern Tiefe.
Die bereits in Museumsarchiven verwahrten Knochensammlungen von bejagten Tieren sollen vollständig erfasst, vermessen und datiert werden. Kruse plant aber auch Feldforschung. Da ihr daran gelegen ist, die Knochenfunde wie Kulturgüter zu behandeln, wird sie keine Knochen von den Fundorten mitnehmen und in Archiven aufbewahren, sondern alle Daten vor Ort erfassen. Außerdem wird sie den früh begonnenen Tourismus, den Bergbau und frühe wissenschaftliche Aufzeichnungen unter die Lupe nehmen.
»Archäologie ist, wie wenn man durch ein Schlüsselloch in einen verborgenen, großen Raum schaut«, beschreibt Kruse ihre Passion. Mit ihrer systematischen Vorgehensweise möchte sie eine solide Grundlage schaffen, die anderen wissenschaftlichen Disziplinen Türen öffnet. Das Ziel: So viele Forschende, Journalistinnen und Journalisten und die breite Öffentlichkeit über Spitzbergen informieren und ihnen Zugang zu Daten ermöglichen. Um das Projekt überregional aufzuziehen, setzt sie sowohl auf nationale als auch internationale Kooperationen. Zudem plant sie, die Zusammenarbeit mit dem Svalbard Museum und der ortsansässigen Universität (University Centre in Svalbard) in Longyearbyen, der Hauptstadt, zu stärken. Die Universität hat zwar archäologische Ausrichtungen, bezieht aber bisher keine Geisteswissenschaften mit ein.
Planungsphase läuft auf Hochtouren
Zurzeit steckt Kruse inmitten der Planung ihres Vorhabens, das voraussichtlich im November richtig durchstartet, mit allen bürokratischen Hürden. Außerdem sucht sie nach einem geeigneten Doktoranden oder einer geeigneten Doktorandin der Archäologie oder Archäozoologie, der oder die für drei Jahre an dem Projekt beteiligt ist, und Kruse auf ihre Forschungsreisen nach Spitzbergen begleiten wird.
Naturschutz durch Öffentlichkeitsarbeit
Die Arktisforscherin spricht sich nicht nur für wissenschaftliche Zusammenarbeit aus, auch an Öffentlichkeitsarbeit und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen ist sie explizit interessiert. Gegen Ende ihres Forschungsprojekts möchte sie ein Kinderbuch veröffentlichen, das einen kindgerechten Einblick in die Jagdgeschichte Spitzbergens und das Thema Ökosystem gibt. »Mir liegt es am Herzen, dass die Menschen mehr über Spitzbergen und die Tierwelt dort erfahren«, sagt Kruse. »Dazu gehört für mich neben der Auseinandersetzung mit dem Historischen auch die mit der Zukunft. Durch lehrreiche Kinderbücher können schon die ganz Kleinen mehr über andere Lebensräume lernen und auch darüber, respektvoll mit der Umwelt umzugehen.« Sie ist daher ebenfalls gern bereit, mit Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen in Kontakt zu treten und dort über ihre Forschung zu berichten.
Aufgrund ihrer bisherigen Forschung vermutet Kruse, dass sich die Bestände der arktischen »Big Five« auf Spitzbergen von der jahrhundertelangen Bejagung allmählich erholen, sogar die Eisbärenpopulation. Mit ihrer Freigeistforschung erhofft sie sich, genauere Aussagen darüber treffen zu können und kann sich weitere Maßnahmen vorstellen: »Im Anschluss an meine Arbeit wäre es denkbar, weitere Teil- oder Anschlussprojekte ins Leben zu rufen, zum Beispiel Isotopenanalysen an den Knochen vorzunehmen oder die Daten zu digitalisieren, die dann in einer großen Datenbank erfasst vielen Forschenden zur Verfügung stünden. Dann müsste mit der Datensichtung nicht immer bei null begonnen werden.«