Wie Professor Nicholas Conard und sein Team aus der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen bei einer Pressekonferenz am Donnerstag berichten, wurde unterhalb der Fundschichten des modernen Menschen eine exzellent erhaltene, blattförmig bearbeitete Hornsteinspitze ausgegraben. Solche Funde werden in der Forschung Blattspitzen genannt. Der neue Fund stammt aus der Zeit der Neandertaler, war Teil einer Stoßlanze gewesen und verrät viel Neues über die kognitiven und handwerklichen Fähigkeiten der Neandertaler. Die Ausgrabungsergebnisse werden in den aktuellen Ausgaben der Fachzeitschriften Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg sowie in den Mitteilungen der Gesellschaft für Urgeschichte veröffentlicht.
»Es ist die erste Blattspitze, die auf der Schwäbischen Alb mit modernen Methoden ausgegraben und mit modernsten Mitteln analysiert wurde«, sagt Conard über die außergewöhnlich fein gearbeitete Blattspitze aus grauem Jurahornstein. Zuletzt wurden ähnliche Funde 1936 in der Region geborgen. »Das ist ein neuer Schritt für die Neandertaler-Forschungsgeschichte und belegt, wie der Neandertaler diese Jagdwaffen herstellte und benutzte.« Die Blattspitze ist 7,6 Zentimeter lang, 4,1 Zentimeter breit, 0,9 Zentimeter dick und 28 Gramm schwer. Wegen der Fundlage in den tieferen Sedimentschichten der Mittleren Altsteinzeit sowie der Auswertung von Begleitfunden anhand von ESR-Datierungen wird ihr Alter auf mehr als 65.000 Jahre eingeordnet. Die sogenannte Blattspitzengruppe in Südwestdeutschland wurde bislang im Allgemeinen deutlich später – so um 45.000 bis 55.000 Jahre vor heute – datiert. Damit ergeben sich neue spannende Fragestellungen zur Chronologie der Mittleren Altsteinzeit.
Über die Verwendung von Blattspitzen in der Mittleren Altsteinzeit gibt es mehrere Hypothesen: Sie könnten als Messer, als Teil eines Wurfspeers oder einer Stoßwaffe benutzt worden sein. Analysen der Gebrauchsspuren des neuen Funds aus dem Hohle Fels durch ein Archäologenteam um Dr. Veerle Rots an der Universität Lüttich in Belgien haben einerseits ergeben, dass die Blattspitze an ihrem flachen Ende mit einem auf Pflanzen basierenden Klebstoff geschäftet war und mit entsprechenden Fasern, Tiersehnen oder Lederriemen gefestigt wurde. Somit ist eine Klebung in einen eigens angepassten Holzschaft anzunehmen. Anderseits weist der Fund an seinem spitzen Ende Beschädigungen auf. Wie Experimente von Rots Team gezeigt haben, lassen die Beschädigungen zum einen auf eine Abnutzung beim Einsatz als Teil einer Stoßlanze schließen. Zum anderen aber auch auf misslungene Versuche, die Blattspitze nachzuschärfen. Es wird angenommen, dass die Schädigungen die Blattspitze unbrauchbar machten und sie deshalb im Hohle Fels zurückgelassen wurde. »Das zeigt uns, dass die Neandertaler ganz genau wussten, was sie erreichen wollten«, sagt Rots. »Sie waren technisch in der Lage, Waffen herzustellen, die einem ganz bestimmen Zweck dienen sollten – in diesem Fall dem Erlegen von Großwild aus unmittelbarer Nähe.« Im Gegensatz zu den gut belegten hölzernen Jagdwaffen der Älteren Altsteinzeit, haben die Neandertaler der Mittleren Altsteinzeit in Holzspeeren geschäftete Steinspitzen bei der Großtierjagd eingesetzt.
Die Blattspitze wird nun bis Anfang Januar 2022 im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren (urmu) als Fund des Jahres ausgestellt. »Der Hohle Fels bei Schelklingen erweist sich nach den spektakulären Funden der Eiszeitkultur des anatomisch modernen Menschen nun auch als sagenhafter archäologischer Speicher für die Zeit der Neandertaler«, sagt Dr. Stefanie Kölbl, geschäftsführende Direktorin des urmu.
Publikation
Ausgrabungen im Hohle Fels: Fundschichten aus dem Mittelpaläolithikum und Neues zur Jagdtechnik der Neandertaler
Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2020, S. 60-65. Juli 2021
Publikation
A Leaf Point Documents Hunting with Spears in the Middle Paleolithic at Hohle Fels, Germany / Eine Blattspitze belegt die Jagd mit Speeren im Mittelpaläolithikum am Hohle Fels, Deutschland
Mitteilungen der Gesellschaft für Urgeschichte 30, S.1-28. 2021