Im späten Mittelalter hatten Verschwörungsmythen über Juden Konjunktur. In Wort und Bild wurde verbreitet, dass Juden mit aller nur denkbaren Gnadenlosigkeit Hostien schänden und zu Ostern rituell kleine Kinder abschlachten würden.
Welche Bild- und Textwerke schürten damals den Glauben der Menschen an diese Fake News? Das untersucht Vinícius Freitas, Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD, in seiner Doktorarbeit am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kunstgeschichte der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg.
Inkunabeln als Spezialgebiet
Wiegendrucke sind das Spezialgebiet des 26-jährigen Brasilianers, der seit April 2019 an der JMU forscht. Mit diesen »Inkunabeln« genannten Druckerzeugnissen aus der Frühzeit des Buchdrucks befasste sich Freitas schon in seiner Masterarbeit an der Universidade Federal Fluminense in Rio de Janeiro: Er zeigte, wie eine antijüdische Ritualmordlegende über diese frühen Drucke entstand und weiterverbreitet wurde: Beispielhaft analysierte er seinerzeit die Inkunabel »Die Geschicht und Legend von dem seyligen Kind und Marterer gennant Symon von den Iuden zu Trientt gemarteret und getoettet«. Gedruckt wurde sie 1475 von Günther Zainer, der als erster Drucker der Inkunabelzeit in Augsburg gilt.
Forschung in Deutschland vertieft
An diesem Thema wollte Vinícius Freitas weiterforschen. Weil das in seinem Herkunftsland nicht in dem Maße möglich gewesen wäre wie in Deutschland, beschloss er, hierher zu kommen. In das Land, in dem im späten Mittelalter antijüdische Legenden durch Drucke verbreitet wurden.
In Eckhard Leuschner, Leiter des JMU-Lehrstuhls für Neuere und Neueste Kunstgeschichte, fand er einen äußerst interessierten Doktorvater. »Geht es um Hostienfrevel- und Ritualmordvorwürfe, werden in der Forschungsliteratur fast immer dieselben Bilder angeführt – es fehlt ein Studium des Materials auf Basis einer breiten Quellenrecherche«, erklärt der Professor. Hauptaufgabe von Freitas sei es zunächst, nach weiteren, wenig bekannten oder sogar völlig unbekannten Druckwerken des 15. und 16. Jahrhunderts so forschen.
Bilder vom angeblichen Hostienfrevel
Im Jahr 1290 kam in Paris erstmals der Vorwurf auf, Juden würden Hostien schänden, erläutert Freitas. Nur acht Jahre später wurden Juden in Röttingen (Kreis Würzburg) beschuldigt, eine Hostie geschändet zu haben. In der Röttinger Pfarrkirche hing bis Ende der 1980er-Jahre ein Ölgemälde, das dieses angebliche Verbrechen darstellte.
Weitere Bildwerke im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Hostienfrevels fand der junge Brasilianer bisher unter anderem in Iphofen (Kreis Kitzingen), Regensburg und Passau. Die Corona-Pandemie machte die Suche allerdings schwierig, denn viele Bibliotheken und Archive ließen keine Recherchen vor Ort zu.
Schriftlich wurde eine Ritualmordlegende mitunter bis auf das i-Tüpfelchen ausgefeilt. Berühmtestes und frühestes Beispiel ist laut Freitas das Werk »The Life and Passion of Saint William the Martyr of Norwich« von Thomas of Monmouth. Der Benediktinermönch beschäftigt sich in diesem Werk mit dem Tod des Kindes William. Der Zwölfjährige starb 1144 aus ungeklärten Ursachen. In seinem Werk, an dem der Mönch mehr als 20 Jahre lang schrieb, behauptete er, Juden hätten William gemartert und gekreuzigt. »Diese Legende hat sich in Europa schnell verbreitet«, so Freitas.
Unglaubliche Wirkmacht der Bilder
Bilder im Kopf können der Wirklichkeit diametral entgegengesetzt sein – und sind dennoch oft so wirkmächtig, dass sie eine unglaubliche Kraft entfalten. Eben das reizt den jungen Forscher an seinem Thema. Auch wenn die Menschen mit eigenen Augen niemals gesehen hatten, dass Juden Hostien schändeten, glaubten sie fest daran.
Diesen falschen Vorstellungen wurde auf raffinierteste Weise nachgeholfen. Denn Bildwerke zeigen, wie die massakrierten, aber nach wie vor erhaltenen Hostien zu bluten beginnen. Auch daran glaubten die Menschen sofort. Die vermeintliche Existenz von »Bluthostien« war lukrativ, denn nicht selten wurden die jeweiligen Gemeinden zu Wallfahrtsorten.
Die Bilder, die Freitas bisher fand, zeigen unter anderem Juden, die sich in wildem Jähzorn an Hostien auslassen. In einem mit Stichen illustrierten Buch wird beispielsweise erzählt, wie ein jüdischer Mann an eine Hostie herangekommen sein sollte. Eines der Bilder zeigt eine alte Frau beim Empfang der Kommunion. Doch sie schluckt die Hostie nicht herunter, sondern verbirgt sie im Mund und verkauft sie dem Juden. Ein anderes Bild zeigt ihn in Aktion: Die Hostie ist an die Wand genagelt, der Mann drischt mit einer Geißel voller Wut auf sie ein, so dass sie zu bluten beginnt.
Erstaunliche Parallelen zur Gegenwart
Verblüffend sei, so Professor Leuschner, wie stark aktuelle Verschwörungsmythen über Bill Gates oder Hillary Clinton, die angeblich in geheimen Verstecken unter der Erde Kinder gefangen halten und ihnen Blut abzapfen, solchen Legenden gleichen: »Wahrscheinlich sind sie sogar davon inspiriert.«
Der Knackpunkt zwischen einst und heute ist die Verbreitungsgeschwindigkeit: Noch so krude Mythen zirkulieren dieser Tage via Internet blitzschnell um die Welt. Wie genau und mit welchem Tempo sich antijüdische Legenden im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit dank der Druckkunst verbreitet haben, versucht nun Vinícius Freitas in seiner Doktorarbeit herauszufinden.
Noch zwei Jahre hat der Wissenschaftler Zeit. Er hofft, dass er 2021 wieder freieren Zugang zu Bibliotheken und Sammlungen erhalten kann. Auf seiner Liste stehen Einrichtungen in Deutschland, Österreich und Norditalien.