Erforschung bedrohter Holzkirchen in der Ukraine

Seit dem späten Mittelalter haben die Völker der Karpaten Kirchen gebaut, die von der Schwelle bis zur Spitze aus Holz bestehen. Entstanden ist eine Vielfalt an sakraler Holzarchitektur, die in Europa einmalig ist – und dennoch bislang kaum beachtet wurde. Heute sind viele Bauwerke von Einsturz, Abriss oder Umbauten gefährdet.

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Hl. Paraskewa in Oleksandrivka, Ukraine; Beispiel für Typus der Maramuresch-Kirchen im Südwesten der ukrainischen Karpaten (Foto: Andrij Kutnyi/TU München)
Hl. Paraskewa in Oleksandrivka, Ukraine; Beispiel für Typus der Maramuresch-Kirchen im Südwesten der ukrainischen Karpaten (Foto: Andrij Kutnyi/TU München)

Andrij Kutnyi, Architekt an der Technischen Universität München (TUM), hat die Kirchen im ukrainischen Teil der Karpaten erstmals wissenschaftlich erforscht. Die Dokumentation könnte dazu beitragen, die Bauten ins Weltkulturerbe aufzunehmen.

Sein mobiles Gerüst reichte nicht bis in die Turmspitze, also musste Andrij Kutnyi klettern. Anschließend hockte der Architekt stundenlang in einem niedrigen Hohlraum und vermaß den Turm – Forschung mit großem Körpereinsatz, um einen architektonischen Schatz ins Licht der Öffentlichkeit zu heben, der selbst in vielen Architekturlexika bis vor Kurzem nicht auftauchte: Rund 2500 Holzkirchen, gebaut vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert, stehen in den Karpatenregionen, etwa 1000 davon im ukrainischen Teil, einem Gebiet von der Größe Bayerns. „Das sind baugeschichtlich äußerst wertvolle Sakralbauten, die europaweit einzigartig sind“, sagt Kutnyi. Allein in Norwegen ist sonst eine nennenswerte Zahl an Kirchen erhalten, die nicht aus Stein, sondern aus Holz errichtet wurden – allerdings auch nur noch rund 30.

Nicht nur ihre Menge, vor allem ihre Vielfalt macht die Gotteshäuser zu bedeutenden Kulturdenkmälern: Jede Bevölkerungsgruppe baute in ihrer eigenen Formensprache. Die Boiken etwa krönten ihre Kirchen mit drei achteckigen, gestuften Kuppeln, die in einer Zwiebel enden. Die Kirchen im Südwesten der ukrainischen Karpaten sind dagegen mit einem Satteldach gedeckt, aus dem ein einzelner spitzer Turm herausragt. Am Osthang des Gebirges wiederum sind sie äußerlich kaum von Bauernhäusern zu unterscheiden.

Erforscht aber wurden die Sakralbauten im Westen der Ukraine bislang kaum. Wie alt sind die einzelnen Kirchen? Welches Holz verwendeten, mit welcher Technik arbeiteten die Dorfbewohner? Drei Jahre lang nahm Andrij Kutnyi eine Vielzahl an Objekten in Augenschein, sechs Kirchen untersuchte er exemplarisch bis ins kleinste Detail: Er dokumentierte jeden Balken der Konstruktion, ließ Materialproben im Labor analysieren und prüfte den aktuellen Zustand der Bausubstanz. Am 10. Juni wird der TUM-Forscher für seine Arbeit in Istanbul von der EU-Kommission und der Denkmalschutzorganisation Europa Nostra mit einem von 29 Europa Nostra Awards, dem European Union Prize for Cultural Heritage, ausgezeichnet.

„Es ist erstaunlich, wie die Erbauer mit primitiven Mitteln äußerst anspruchsvolle Konstruktionen bewerkstelligt haben“, sagt Kutnyi. Im Unterschied zu den norwegischen Stabkirchen wurden die rund 7,5 bis 60 Meter hohen Gebäude überwiegend in Blockbauweise errichtet. Dabei werden die Balken horizontal übereinander geschichtet und in den Ecken verzahnt. Die Konstrukteure wählten in verschiedenen Höhen gezielt unterschiedliche Verbindungsarten, um eine optimale Statik zu erreichen. „Die Kirche in Isaji aus dem 17. Jahrhundert besitzt eine der weltweit ältesten oktogonalen Blockholzkuppeln – eine technische Meisterleistung“, betont Kutnyi. Die verwendeten Hölzer variieren je nach Klima. Eiche und Kiefer finden sich ebenso wie Tanne und Fichte. Wie geschickt die Baumeister vorgingen, zeigt auch einer der frühesten Einsätze von Holzschutzmittel, den Kutnyi nachweisen konnte: In Drohobytsch tränkten sie um 1600 sämtliche Balken in Salzsole, um Schädlinge abzuschrecken.

Im Innern gliedern sich die meisten Kirchen, wie in der Orthodoxie üblich, in drei Räume. Dabei ist der Chor durch eine Ikonostase, eine Bilderwand, abgetrennt. Auch die anderen Wände sind oft reichhaltig mit Heiligenbildern oder Bibelszenen bemalt. Die Kirchenbauer gehörten der griechisch-katholischen Konfession an, die dem orthodoxen Ritus folgt, aber den Papst als Oberhaupt anerkennt. Sie wurde in der Sowjetunion verboten, die Gotteshäuser wurden zweckentfremdet.

Wie befürchtet fand Kutnyi die Sakralbauten in stark gefährdetem Zustand vor. Viele Kirchen werden auch heute nicht genutzt, weil sie nur Platz für höchstens 50 Personen bieten und meist weder mit Strom noch mit Heizung ausgestattet sind. „Einige wurden so lange vernachlässigt, dass sie akut einsturzgefährdet sind“, sagt Kutnyi. Vier bis sechs Kirchen fallen jährlich einem Brand zum Opfer. Blitzableiter fehlen, Kerzen fallen um, Brandstifter wollen an den Bauplatz kommen.

Werden die Kirchen genutzt, drohen andere Gefahren: Die Gemeinden renovieren die Bauten nach praktischen und finanziellen Gesichtspunkten, ohne bauhistorische Aspekte zu berücksichtigen. So wurden marode Holzdächer mit Blech überzogen, viele der verrußten Wandmalereien mit frischen Ölfarben überpinselt. „Handwerker bekommen den Auftrag ,Die Kirche soll wie neu aussehen’“, hat Kutnyi erfahren. „Die Dorfbewohner denken, sie tun etwas Gutes. Aber für den Denkmalpfleger ist das natürlich schmerzhaft.“ Zwar stehen rund 17 Prozent der Kirchen unter Denkmalschutz, aber dessen Möglichkeiten sind begrenzt.

In den Karpatenregionen der Nachbarländer Polen, Rumänien und Slowakei wurden bereits mehrere Holzkirchen in die Weltkulturerbeliste der UNESCO aufgenommen. „In der Ukraine sind entsprechende Vorschläge bislang nicht nur deshalb gescheitert, weil die Regierung andere Probleme hat“, sagt Kutnyi über sein Heimatland. „Voraussetzung für die Ernennung ist auch die gründliche Erforschung der Kulturgüter.“ Andrij Kutnyis Arbeit könnte deshalb ein entscheidender erster Schritt auf dem Weg zum Weltkulturerbe sein.

Publikation

Andrij Kutnyi, Sakrale Holzarchitektur in den Karpaten. Bauforschung an ausgewählten Beispielen in der West-Ukraine, Callwey, München 2009

Hl. Nikolaus (1795), Beispiel einer Kirche des Boika-Typs (Foto: Andrij Kutnyi/TU München)
Hl. Nikolaus (1795), Beispiel einer Kirche des Boika-Typs (Foto: Andrij Kutnyi/TU München)
Andrij Kutnyi dokumentiert die Konstruktion einer Holzkirche (Foto: Andrij Kutnyi/TU München)
Andrij Kutnyi dokumentiert die Konstruktion einer Holzkirche (Foto: Andrij Kutnyi/TU München)