Die aus dem östlichen Zentralasien stammenden Awaren beherrschten vom 6. bis zum 9. Jahrhundert für ein Vierteljahrtausend weite Teile Ostmitteleuropas. Sie sind zwar weniger bekannt als ihre weniger erfolgreichen Vorgänger, die Hunnen. In ihren Gräberfeldern hinterließen sie jedoch – mit bisher rund 100.000 ausgegrabenen Grabstätten – eine der umfangreichsten archäologischen Vermächtnisse der europäischen Geschichte. Aus den Bestattungsbräuchen der Awaren und den schriftlichen Überlieferungen ihrer Nachbarn konnten teilweise Rückschlüsse auf ihre sozialen Praktiken und Lebensweisen gezogen werden. Die Archäogenetik ermöglicht nun aber einen völlig neuen Blick auf die awarischen Gemeinschaften, die vor mehr als 1.000 Jahren lebten. Verwandtschaftsbeziehungen können nun bis auf den sechsten bis zehnten Grad zurückverfolgt werden.
Durch die Kombination alter Genome mit archäologischen, anthropologischen und historischen Informationen haben Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Ungarn, Österreich und den USA aus dem multidisziplinären von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) koordinierten ERC-Projekt HistoGenes neue Wege beschritten, um mehr über Verwandtschaftsmuster, soziale Praktiken und Bevölkerungsentwicklung in der fernen Vergangenheit zu erfahren. Das Team nutzt neueste Methoden und Werkzeuge aus Genetik und Bioinformatik und setzt damit neue Maßstäbe.
Ganze Gemeinschaften erforschen
Das historische Wissen über die Awaren ist von ihren Feinden, vor allem den Byzantinern und Franken, überliefert. Informationen über die innere Organisation ihrer Gemeinschaften fehlen. Vor allem die Frauen sind in den historischen Quellen unterrepräsentiert, sodass über ihr Leben kaum etwas bekannt ist. Wir wissen, dass einige Gruppen aus den ostasiatischen Steppen nach Europa kamen, aber inwieweit - wenn überhaupt - wurden Steppentraditionen in der awarischen Gesellschaft bewahrt? Wie interagierten die Neuankömmlinge aus dem Osten untereinander und mit der Bevölkerung ihrer neuen europäischen Heimat? Wie veränderte sich ihre Lebensweise im Laufe der Zeit in einer völlig neuen Umgebung, nachdem sie die Steppe verlassen und ihre nomadische Lebensweise aufgegeben hatten?
Das HistoGenes-Projektteam besteht aus Genetikern, Archäologen, Anthropologen und Historikern des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, des Instituts für Archäologische Wissenschaften und der Abteilung für Biologische Anthropologie der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE), des Instituts für Archäogenomik, des HUN-REN Forschungszentrums für Geisteswissenschaften in Budapest, Ungarn, des Curt-Engelhorn-Zentrums für Archäometrie in Mannheim, des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung der Universität Wien, Österreich, des Institute for Advanced Study in Princeton, USA, und anderen. Anders als sonst im Forschungfeld “Archäogenetik” üblich, hatte sich das Team zum Ziel gesetzt, ganze Gemeinschaften zu untersuchen. “Für diese Studie wurden alle verfügbaren Skelette in vier komplett ausgegrabenen Gräberfeldern beprobt. Durch die Kombination mit Ergebnissen aus anderen Disziplinen ergibt sich ein neues, viel detailreicheres Bild vom Leben in Mitteleuropa vor über 1000 Jahren”, sagt Walter Pohl vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW, der das HistoGenes-Projekt leitet. Da die alte DNA außergewöhnlich gut erhalten war, konnten die Forschenden die Abstammung und die Lebensumstände von insgesamt 424 Individuen analysieren. Dabei stellten sie fest, dass etwa 300 von ihnen einen nahen Verwandten (1. oder 2. Grades) hatten, der im selben Gräberfeld bestattet worden war. So konnten die Forschenden mehrere umfangreiche Stammbäume rekonstruieren, von denen der größte neun Generationen umfasst und einen Zeitraum von rund 250 Jahren abdeckt.
Dynamik der Gemeinschaft
Das Forschungsteam konnte Gemeinschaften identifizieren, die ein streng patrilineares Abstammungssystem praktizierten, in dem Patrilokalität (männliche Individuen bleiben nach der Heirat in der Gemeinschaft) und weibliche Exogamie (weibliche Individuen ziehen nach der Heirat in die Gemeinschaft ihres Partners) die Norm waren. Die Gemeinschaften waren lokal um eine Hauptpatrilinie - einen Stammesvater - zentriert, blieben aber durch die Zu- und Abwanderung von Frauen miteinander verbunden. Zuzana Hofmanová, eine Hauptautorin der Studie, sagt: "In gewisser Weise zeigt dieses Muster, dass die Rolle der Frauen darin bestand, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken, indem sie die einzelnen Gemeinschaften miteinander verbanden.”
Es war auch üblich, mehrere Fortpflanzungspartner zu haben. “Es finden sich zum Beispiel genetische Hinweise darauf, dass Frauen regelmäßig Kinder von mehreren miteinander verwandten Männern bekommen haben. Meine Dissertantin Sandra Wabnitz hat dann die Belegstellen für diese Praxis, die sogenannte Leviratsehe, in chinesischen Quellen aus der Zeit gefunden”, erklärt Walter Pohl. Die Forscherinnen und Forscher konnten mehrere “Leviratspaare” nachweisen. Dabei zeugten verwandte Männer (Brüder oder Vater und Sohn) mit derselben Frau Nachkommen. Erstautor Guido Alberto Gnecchi-Ruscone fügt hinzu: "Diese Praktiken und das Fehlen von Inzucht deuten darauf hin, dass diese Gesellschaft ein detailliertes Gedächtnis ihrer Abstammung besaß und über Generationen hinweg wusste, wer ihre biologischen Verwandten waren.”
Mit Hilfe der umfangreichen Stammbäume und der Daten aus den Gräberfeldern konnten die Forscherinnen und Forscher auch einen deutlichen Wandel innerhalb einer der untersuchten Stätten erkennen. Dieser zeigte sich im Wechsel von einer Patrilinie (durch das Y-Chromosom markiert) zur nächsten und in Veränderungen der entfernten Verwandtschaftsstrukturen. Koautorin Zsófia Rácz sagt: "Dieser plötzliche Austausch spiegelt sowohl einen archäologischen Wandel als auch eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten wider. Beides konnten wir an der Fundstätte als Teil eines größeren archäologischen Übergangs nachweisen, der im gesamten Karpatenbecken stattfand.” Dieser Wandel hängt wahrscheinlich mit politischen Veränderungen in der Region zusammen, ging aber nicht mit einer Veränderung der Abstammung einher. Ohne die Untersuchung ganzer Gemeinschaften wäre er daher nicht sichtbar geworden. Diese Entdeckung zeigt, wie genetische Kontinuität auf Abstammungsebene den Austausch ganzer Gemeinschaften verschleiern kann, mit wichtigen Implikationen für zukünftige Studien, die genetische Abstammung mit archäologischen Veränderungen vergleichen.
Publikation
Network of large pedigrees reveals practices of Avar communities
Nature. 24.4.2024
DOI: 10.1038/s41586-024-07312-4