Einzigartige Gesamtschau zur Alphabetschrift

Woher kommt die Alphabetschrift, die wir tagtäglich gebrauchen? Ägyptologen der Universität Bonn beantworten diese Frage mit einer einzigartigen Dokumentation, in der die wichtigsten Erkenntnisse zu diesem Thema zusammengefasst sind. Das Buch »Sinai und Alphabetschrift. Die frühesten alphabetischen Inschriften und ihr kanaanäisch-ägyptischer Entstehungshorizont im Zweiten Jahrtausend v. Chr.« ist kürzlich erschienen.

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Untersuchung einer frühalphabetischen Inschrift
Prof. Dr. Ludwig Morenz von der Universität Bonn bei der Untersuchung einer frühalphabetischen Inschrift in einer der Türkisminen auf dem Hochplateau von Serabit el Chadim. Foto: © Amr El Hawary

Das Hochplateau von Serabit el Chadim auf der Sinai-Halbinsel diente seit etwa 1920 v. Chr. als wichtige Abbaustätte für Kupfer und Türkis. »Dort befand sich auch ein großer Tempel«, sagt der Ägyptologe Prof. Dr. Ludwig Morenz von der Universität Bonn. »Es handelte sich um eine wichtige interkulturelle Kontaktzone zwischen Kanaanäern und ägyptischen Expeditionen, die immer wieder in das Gebiet kamen.« Deshalb stellt Serabit eine reiche Fundstelle mit vielen Schriftzeichen aus dieser Zeit dar. Ein ideales Studiengebiet für die Ägyptologen.

Aufgrund der Einfachheit ein »Erfolgsmodell«

Während die Altägypter mit ihren Hieroglyphen bereits längst über eine eigene Schrift verfügten, waren die Kanaanäer in dieser Hinsicht noch nicht so weit entwickelt. »Der rege Austausch führte dazu, dass auch die Kanaanäer auf Augenhöhe gleichziehen wollten«, berichtet Morenz. Sie gingen die Sache möglichst einfach an: Während die Altägypter in Serabit Hunderte verschiedene Hieroglyphen hinterließen, beließen es die Kanaanäer bei etwa 24 Zeichen. Damit war die erste Alphabetschrift geboren. Morenz: »Sie war eine stark »abgespeckt« Variante der ägyptischen Zeichen, wurde aber aufgrund ihrer einfach anzuwendenden Weise bis heute ein graphisches Erfolgsmodell.«

Die Alphabetschrift der Kanaanäer bestand bereits aus einzelnen Buchstaben, die sich zu Wörtern kombinieren ließen. Dagegen waren die Hieroglyphen deutlich komplizierter: Verschiedene Zeichen standen nicht für einzelne Buchstaben, sondern kodierten ganze Begriffe. Die Hieroglyphen waren deshalb vielfältiger und erforderten einen deutlich größeren Zeichenschatz. Teilweise symbolisierten unterschiedliche Zeichen dieselben Begriffe. »Darüber hinaus war es nicht ungewöhnlich, dass ägyptische Schreiber auf Gutdünken selbst noch neue Zeichen einführten«, sagt Morenz.

Huldigung der Götter

In Serabit sind mehrere Schriften in den kanaanäischen Schriftzeichen überliefert. Ein Teil davon sind Verträge, die etwa mit den Ägyptern geschlossen wurden − zum Beispiel über die Zahl von Arbeitern, die beschäftigt waren. »Das Ziel der kanaanäischen Schrift war aber offensichtlich nicht in erster Linie, Verträge abschließen zu können«, sagt Morenz. »Wahrscheinlich ging es vielmehr darum, mit dieser Schrift Götter zu verehren.« Darüber hinaus wirkte die eigene Schrift selbstverständlich auch identitätsstiftend für die Kanaanäer.

Mehrere Fundstücke aus dieser Zeit zeugen von der engen Kooperation der Kanaanäer mit den Ägyptern. Die Büste eines Mannes mit der alphabetischen Namensaufschrift Tenet (rund 1.800 v.Chr.) erinnert in ihrem Erscheinungsbild deutlich an eine ägyptische Statue. Auf ihrer Brust ist aber in kanaanäischen Schriftzeichen der Name eingeritzt. Aus dieser Epoche stammt auch eine Sphinx aus dem Tempel, in dem die Kanaanäer einen eigenen Kultraum hatten. Auch auf ihr finden sich mehrere Schriftzüge in kanaanäischen Buchstaben, die der Gottheit gewidmet sind, während auf der Schulter eine ägyptisch-hieroglyphische Inschrift steht – also eine Bilingue.

Sonderausstellung in Kairo als Grundlage

Die Basis für diese einzigartige Gesamtschau bildet eine Sonderausstellung zur Herausbildung der Alphabetschrift im Ägyptischen Nationalmuseum in Kairo, die im Jahr 2016 stattfand und von Morenz und seinem Mitarbeiter David Sabel kuratiert wurde. »Wir konnten damals erstmals alle Stücke des Museums sichten und hatten ideale Arbeitsbedingungen«, berichtet Morenz. Die originalen Fundstücke selbst in Augenschein nehmen zu können, ist für die Ägyptologen von unschätzbarem Wert.

»In Büchern und Fotos ist zwar vieles dokumentiert«, berichtet Sabel. »Die Aufnahmen sind aber teilweise sehr alt und von schlechter Qualität.« Die Schriftzeichen lassen sich auf diesen alten Dokumenten nicht immer einwandfrei erkennen und führen deshalb häufig zu Fehlinterpretationen. Sabel: »Unsere Fotos und Umzeichnungen der Buchstaben, die wir nicht nur im Nationalmuseum Kairo, sondern auch in Museen in Brüssel, Cambridge (Massachusetts) und London angefertigt haben, sind nun auf dem neuesten Stand.« Und mit dem neuen Buch werden sie allen Interessierten zur Verfügung gestellt, wodurch die Schriftzeichen besser bestimmt und eingeordnet werden können.

Publikation

Ludwig D. Morenz, mit Beiträgen von David Sabel

Sinai und Alphabetschrift. Die frühesten alphabetischen Inschriften und ihr kanaanäisch-ägyptischer Entstehungshorizont im Zweiten Jahrtausend v. Chr.

EB-Verlag Dr. Brandt, Berlin.

Kopieren einer ägyptischen Inschrift
David Sabel von der Universität Bonn beim Kopieren einer der über 40 Inschriften am Felsweg von Rod el Air – einem der wenigen Aufstiegspunkte zum Hochplateau von Serabit el Chadim. Foto: © Tobias Gutmann