Textilien haben so gut wie keine Überlieferungschancen. Bereits geringe Überreste aus alten Kulturen gelten unter Archäologen und Kunstwissenschaftlern als eine kleine Sensation. Eine kulturhistorische Sensation haben Spezialistinnen der Studienrichtung "Restaurierung und Konservierung von Textilien und archäologischen Fasern" der Fachhochschule Köln aus zahlreichen Stofffetzen aus einem mongolischen Felsgrab aus dem 7. bis 11. Jh. rekonstruieren können: zwei unterschiedliche Gewänder aus reiternomadischem Kontext. Damit liegen zum ersten Mal originale Beispiele von Bekleidung aus dem 11. Jh. vor, die bis heute nur aus Abbildungen bekannt sind. Maike Piecuch und Laura Peters, beide Masterstudentinnen an der Fachhochschule Köln, gelang es unter Leitung von Prof. Dr. Annemarie Stauffer, aus den vielen Einzelteilen einen einzigartigen Seidenkaftan aus chinesischem Damastgewebe und den ältesten bis heute bekannten Wolldeel (ein Mantel aus Wollfilz) zu rekonstruieren. Die Erforschung, Rekonstruktion und anschließende Konservierung der Gewänder ist Teil eines Gemeinschaftsprojekts der Fachhochschule Köln, der Universität Bonn, des LVR-LandesMuseums Bonn sowie des Instituts für Archäologie der Mongolischen Akademie der Wissenschaften, das von der Gerda Henkel Stiftung und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Die wertvollen Textilien zählen zu den Prunkstücken der spektakulären Ausstellung »Steppenkrieger – Reiternomaden des 7. – 14. Jahrhunderts aus der Mongolei«, die ab dem 26. Januar 2012 im LVR-Landesmuseum in Bonn zu sehen sein wird. Die Ausstellung wird zeigen, welchen hohen Standard die Kultur der gleichzeitig gefürchteten und bewunderten Reiternomaden hatte – eine Hochkultur, die bislang immer in der geschichtlichen Betrachtung unterschätzt worden ist. Die neuen Erkenntnisse sind Meilensteine der Kulturgeschichte und in der Erforschung der mongolischen Kultur.
»Die Seide wurde in üppigster Weise verarbeitet – der Kaftan besteht vollständig aus Seide«, schwärmt Professorin Annemarie Stauffer. »Das lässt Rückschlüsse auf die hohe Position und den Reichtum seines Besitzers zu und zeigt, dass man einen Zugang zu Handelsgütern und Verbindungen zu China hatte. Allerdings wissen wir noch nicht auf welchen Wegen der Seidendamast in die Nordmongolei kam.« Damast war damals kein übliches Handelsgut und nur Chinesen konnten Damastseide weben. Möglicherweise war der Seidendamast ein Geschenk. Der raffinierte Schnitt wirft ein ebenso neues Licht auf die herausragenden Leistungen der Reiternomaden: »Wir wussten«, so Prof. Stauffer, »dass die Ärmel der Reitergewänder in unterschiedlicher Weise getragen werden konnten. Erst jetzt wissen wir, wie das Gewand konkret geschneidert war und getragen wurde. Es hat sehr lange Ärmel, durch Schlitze unter den Armen konnten die Arme zum Reiten aus den Ärmeln gezogen und diese mit einem Knopf am Rücken befestigt werden.«
Höchste Schneiderkunst belegt auch der zweite Textilfund, der Wollmantel. Er besteht aus einzelnen zusammen genähten Bahnen. Das Besondere sind die Feinheit und die Verarbeitung des Tuchs. Der Mantel ist hochfunktionell geschneidert: Oben eng anliegend, unten weit geschnitten (damit man aufs Pferd steigen konnte), und so genäht, dass der Reiter nicht auf den Nähten sitzen musste und seine Beine geschützt waren. Zudem hatte er eine Kapuze zum Schutz gegen die Witterung. Und das alles in einer sehr feinen Faser, schön und gleichmäßig verarbeitet. Zur endgültigen Bestimmung, aus welcher Wolle der Mantel besteht, sind weitere intensive Analysen, Recherchen und Abgleiche mit Spezialdatenbanken erforderlich. Das Zentrum zur Erforschung antiker und mittelalterlicher Textilien an der FH Köln verfügt über vielfältige analytische Möglichkeiten und umfassende Datenbanken zur Erforschung dieser Textilien.
»In dem trocken-kalten Klima auf 1800 bis 3000 Meter und in den Felshöhlen vor Regen, Schnee und Sonne gut geschützt haben sich diese Objekte ungewöhnlich gut erhalten«, freut sich Prof. Dr. Jan Bemmann von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn der zusammen mit seinem mongolischen Kollegen Tsagaan Törbat das mongolisch-deutsche Forschungsprojekt leitet. »Die Ausstellung in Bonn ist aufgrund der noch nie gezeigten und außerordentlich gut erhaltenen einzigartigen Neufunden aus der Mongolei eine wirkliche Sensation«, betont Dr. Michael Schmauder vom LVR-LandesMuseum Bonn. »Das belegen nicht zuletzt die Textilobjekte. Gleichzeitig unterstreicht die Ausstellung in besonderer Weise die Kompetenz des Landesmuseums als Forschungseinrichtung und verdeutlicht darüber hinaus die enge Einbindung des Landesmuseums in ein nationales und internationales Forschungsnetzwerk.«