Auf ihren Feldzügen gegen das antike Nubien im heutigen Sudan hatten die alten Ägypter im zweiten Jahrtausend v. Chr. den Ort Sai als Stützpunkt ausgewählt. Zwischen der Südgrenze Ägyptens und dem nubischen Zentrum Kerma gelegen, war die Nil-Insel bestens geeignet, um den Schiffsverkehr zu kontrollieren. Mit dem Sieg der Pharaonen um 1.500 v. Chr. hätte die Geschichte des militärischen Brückenkopfes bereits wieder beendet sein können. Doch das Gegenteil war der Fall. Wie Archäolog/innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zeigen konnten, verwandelte sich Sai in eine über mehrere Jahrhunderte blühende ägyptische Kolonialstadt.
Das Forschungsteam um Julia Budka vom Institut für Orientalische und Europäische Archäologie (OREA) der ÖAW sowie der LMU München startete seine Grabungen und Untersuchungen 2012 in einem vom Europäischen Forschungsrat ERC und vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt. Mit modernen Methoden wie 3D-Lasercans oder Strontiumisotopenanalysen konnten die Wissenschaftler/innen seither neue Erkenntnisse zur Funktion, Planung und städtebaulichen Entwicklung Sais gewinnen. Zudem gelang es ihnen, mehr zum Zusammenleben der Bewohner/innen der antiken Stadt zu erfahren.
"Nach dem Sieg der Ägypter über das nubische Königreich der Kerma sollte Sai zunächst zur Machtdemonstration des Pharaos gegenüber der einheimischen Bevölkerung werden", schildert Julia Budka den Startpunkt der Verwandlung Sais. So wurden unter Pharao Tutmosis III. (ca. 1486–1425 v. Chr.) ein massiver Steintempel zu seiner Verehrung sowie befestigte Stadtmauern errichtet. Dank der Lage mitten im Nil war Sai zugleich an die bedeutendste Handelsroute zwischen Norden und Süden angebunden und Rohstoffe wie Sandstein aber vor allem Gold trugen wesentlich zum Aufschwung der Siedlung bei.
"Sai wurde rasch zu einem Zentrum für den Abbau und die Verarbeitung von Gold", erklärt Budka. "Das umliegende Nubien galt als Goldland der Pharaonen. Das hier geschürfte Edelmetall wurde vor allem über den Nil in den Norden transportiert, um dort etwa Gräber wie jenes von Tutanchamun zu zieren", so die ÖAW-Archäologin weiter. Dass Sai in diesem Goldhandel eine wichtige Rolle spielte, konnte nun erstmals anhand neuer archäologischer Funde eindeutig belegt werden. So wurde am Friedhof der Stadt das Grab eines Goldschmiedemeisters freigelegt, das unter anderem einen kunstvollen Ring aus Gold und Silber enthielt. Auch die neu entdeckten Keller und Magazine in der Nachbarschaft des Steintempels scheinen mit Abgaben an die nach dem Edelmetall dürstenden Pharaonen im Norden zusammenzuhängen. Hier wurden offenbar Waren für den Weitertransport gekennzeichnet und gelagert.
Zum Aufstieg Sais vom Militärposten zum regionalen ägyptischen Handels- und Verwaltungszentrum passen auch neue Erkenntnisse, die die Forscher/innen zu den Einwohnern der Stadt gewinnen konnten. Ganze Familien aus dem ägyptischen Norden siedelten sich nach dem Sieg über die Nubier hier an, um administrativen, religiösen, handwerklichen oder kommerziellen Tätigkeiten nachzugehen. Mit im Gepäck hatten sie die Kultur Ägyptens – von der Pharaonenverehrung über handwerkliches Fachwissen bis hin zum Lebensstil. Wie stark die ägyptischen Einflüsse auf den Alltag waren, verdeutlichen Funde wie Haushaltskeramiken oder die freigelegte kleine Figur eines Hundes mit Halsband: Während Hunde in Ägypten schon lange domestiziert waren, galt das für die Region Sai anfangs noch nicht.
"Von einer kulturellen Einbahnstraße kann allerdings keine Rede sein. Die ägyptischen Neuankömmlinge durchmischten sich in Sai rasch mit der einheimischen Bevölkerung", sagt Julia Budka. Bewohner von Sai konnten wenige Jahrzehnte nach der ersten Blütezeit sogar selbst in hohe Verwaltungspositionen in der Stadt aufsteigen. Im Alltag, etwa bei den Ernährungsgewohnheiten, wurden einheimische Traditionen nicht verdrängt, sondern um ägyptische Gewohnheiten erweitert. Und umgekehrt sind auch in ägyptischen Techniken, wie beispielsweise der Keramikproduktion, nubische Einflüsse zu bemerken.
Der Wandel zu einem multikulturellen Zentrum wirkte sich schließlich auch auf die städtebauliche Entwicklung aus. Der anfangs angelegte strikte Grundriss Sais nach dem Reißbrettmuster wurde, wie das Team um Budka herausfand, bald durchbrochen und teilweise von einem dynamischen, freien Baugeschehen einer pluralen Metropole abgelöst.
An dem Projekt waren rund 25 Wissenschaftler/innen und Studierende aus der Archäologie, Geologie, Architektur, Biologischen Anthropologie, Zoologie und Ägyptologie aus mehr als sechs Ländern beteiligt. Bislang sind über 30 Publikationen, darunter auch zwei Bücher im ÖAW-Verlag, aus dem Projekt hervorgegangen, weitere sind aktuell in Arbeit.
Zum Abschluss des Projekts ist auch ein Kurzfilm erschienen, der mit zahlreichen 3D-Rekonstruktionen die zentralen Ergebnisse präsentiert und faszinierende Einblicke bietet in die über 3.000 Jahre alte Geschichte der Kolonialstadt Sai. Der Film ist im Internet verfügbar.
Die Forschungen wurden gefördert vom Europäischen Forschungsrat ERC mit einem Starting Grant, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München angesiedelt ist, und vom Wissenschaftsfonds FWF mit einem START-Preis an der ÖAW.