In aktuellen Krisen kann der Blick eines Medizinhistorikers hilfreich sein. Als das Präsidium des Mediävistenverbands Anfang 2020 darüber diskutierte, ob es angesichts der Corona-Pandemie das geplante Symposium um ein Jahr verschieben soll, warf der Vertreter der Medizingeschichte ein: »Ihr glaubt doch nicht, dass das in einem Jahr vorbei ist!« Mit seinem Wissen über vergleichbare Ereignisse in der Vergangenheit war ihm klar, dass das Virus die Menschheit deutlich länger einschränken wird – und so kam es dann ja auch.
Orientierung in der Gegenwart
»Mediävisten können mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen Orientierung in der Gegenwart bieten. Mit ihren Diskussionen und Reflexionen sind sie in der Lage, so manchem Empörungsdiskurs von heute den Schwung zu nehmen«, ist Regina Toepfer überzeugt. Die Germanistin hat an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) den Lehrstuhl für deutsche Philologie inne; Literatur und Kultur des hohen und des späten Mittelalters bilden einen Schwerpunkt ihrer Forschung.
Seit März 2023 ist Toepfer außerdem Präsidentin des Mediävistenverbands, einer wissenschaftlichen Vereinigung mit über 1.100 Mitgliedern und damit der größte mediävistische Verband der deutschsprachigen Länder. Gegründet am 24. Mai 1983 in Tübingen, kann er in diesem Jahr sein 40-jähriges Jubiläum feiern. »Eine Erfolgsgeschichte«, wie Regina Toepfer sagt.
Vorreiter bei der Vernetzung
Tatsächlich sei der Zusammenschluss über Fächergrenzen hinweg 1983 etwas Besonderes gewesen: »Damals waren Vernetzung und Verbundforschung noch neu«, sagt die Verbandspräsidentin. Der interdisziplinäre Ansatz sei jedoch nur konsequent gewesen: »Mittelalterforschung geht nur mit dem Blick über den Tellerrand des jeweils eigenen Fachs hinaus«, so Toepfer.
Dementsprechend finden sich heute im Mediävistenverband Vertreterinnen und Vertreter sämtlicher mediävistischer Fächer »von der Archäologie bis zur Theologie«, wie es auf seiner Homepage heißt. Sie miteinander ins Gespräch zu bringen, um über gemeinsame und interdisziplinär angelegte Arbeit zu einem besseren Verständnis der mittelalterlichen Gesellschaften und ihrer Kulturen beizutragen, ist wesentliches Ziel der Verbandsarbeit.
Neue Fächer erweitern den Kanon
Traditionell stark vertreten sind Fächer wie Geschichte, Germanistik oder Kunstgeschichte, die sich schon immer intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt haben. Seit der Gründung vor 40 Jahren wurde dieser Kanon jedoch deutlich ausgeweitet. Byzantinistik, Islamwissenschaften, Jüdische Studien, Skandinavistik oder Medizingeschichte und etliche weitere Fächer sind inzwischen ebenfalls in dem Verband vertreten.
»Von 500 bis 1500 hat das Mittelalter gedauert«: So lernen es Schülerinnen und Schüler, so steht es auf vielen Webseiten. Ob man die Grenzen tatsächlich so strikt ziehen könne, sei schon immer Diskussion in der Wissenschaft gewesen, sagt Regina Toepfer. Dabei habe sich schnell gezeigt: Nein, das geht nicht. Inzwischen sei klar, dass zeitliche Grenzen von Fach zu Fach variieren – die Skandinavistik definiert Mittelalter anders als die Islamwissenschaft und die wiederum anders als die Rechtsgeschichte. »Trotzdem wollen wir den Begriff nicht aufgeben, auch wenn uns klar ist, dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt«, so Toepfer.
Zeitschriften und Symposien
Das Sammeln und Bereitstellen von Informationen zu aktuellen Entwicklungen in der Mediävistik; die Vernetzung mediävistischer Disziplinen und Stärkung auch der sogenannten kleinen Fächer; ein Hochschul- und kulturpolitisches Engagement sowie die Interessenvertretung für mediävistische Fächer und Institutionen: Diese Punkte beschreibt der Verband als seine zentralen Aufgaben. Und natürlich regt er auch Forschungsprojekte rund um das Mittelalter an.
Dafür hat er in den vergangenen 40 Jahren einen umfangreichen Katalog an Veranstaltungen und Angeboten etabliert. Beispielsweise gibt der Mediävistenverband zweimal im Jahr die Zeitschrift »Das Mittelalter« heraus, eine Sammlung wissenschaftlicher Artikel, die sich in der Regel einem speziellen Thema widmen. Seit dem Jahr 2021 erscheint die Zeitschrift bei Heidelberg University Publishing im Open Access-Verfahren und ist somit allen Interessierten frei zugänglich. Die Verbandszeitschrift wird durch die Reihe »Das Mittelalter. Beihefte« ergänzt.
Zentrale Plattform für den interdisziplinären Austausch sind Symposien, die alle zwei Jahre stattfinden – wenn nicht gerade Corona den Zeitplan durcheinanderwirbelt. Das jüngste fand im vergangenen März in Würzburg statt und stand unter dem Motto: »Normen und Ideale«. Das nächste ist für 2025 in Salzburg geplant, dann zum Thema »In Nomine«.
»Ein spannendes Thema aus Sicht der Germanistik«, findet Regina Toepfer. Welche Namen tauchen in mittelalterlichen Texten auf, welche Bedeutung tragen sie? Welche Figuren werden namentlich erwähnt, welche nicht? Und natürlich die große Frage: Wie wird Gott genannt? All dies sind Fragen, mit denen sich Expertinnen und Experten für das Mittelalter befassen mit dem Ziel, Auskunft über das Denken und Leben der Menschen in dieser Zeit zu gewinnen.
Spezielle Angebote zur Nachwuchsförderung
Für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses hat der Mediävistenverband ebenfalls diverse Angebote parat. Schließlich gehören die Vernetzung und Förderung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in frühen Phasen ihrer wissenschaftlichen Karriere zu seinen zentralen Anliegen. Dazu zählen eine Anschubfinanzierungen für interdisziplinäre mediävistische Projekte oder Stipendien zur Teilnahme an Spezialkursen. Mit einem eigenen Dissertationspreis fördert er außerdem herausragende Dissertationen, die dieses interdisziplinäre Arbeiten vorbildlich umsetzen.
Vor dem Hintergrund von gut 1.000 Jahren, über die sich das Mittelalter nach dem klassischen Verständnis erstreckte, erscheinen 40 Jahre Verbandsgeschichte kurz. Hat sich trotzdem in dieser Zeit der Blick auf diese Epoche verändert? »Definitiv ja«, sagt Regina Toepfer. Verantwortlich dafür sei zum einen der Siegeszug der Digitalisierung. »Damit stehen uns heute viel mehr Quellen mit einer viel größeren Vielfalt für unsere Forschung zur Verfügung.«
Neue Perspektiven und neue Fragen
Mindestens genauso bedeutend sei jedoch eine veränderte Perspektive von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. »Die eigene Position als Ausgangspunkt für die Sicht auf das Mittelalter beeinflusst unweigerlich unser Bild«, sagt sie. Wenn also heute Themen wie Diversität, Gender und Rassismus verstärkt in den Fokus rücken, schlägt sich das auch in der Forschung nieder.
Wird beispielsweise in mittelalterlichen Texten ganz selbstverständlich von Kreuzzügen gegen die »Heiden« berichtet, könne das heute nicht so übernommen werden. Dementsprechend sei auch Forschungsliteratur etwa aus den 1970er-Jahren mit Vorsicht zu lesen, beispielsweise wenn es um Schilderungen zur Rolle von Frauen geht. »Aus heutiger Sicht spiegelt sich dort bisweilen ein schwer erträgliches Bild«, so Toepfer.
»Neue Perspektiven führen zu neuen Fragestellungen«, sagt Regina Toepfer. Aus diesem Grund ist sie zuversichtlich, dass mediävistische Forschung auch in den kommenden 40 Jahren immer wieder neue Seiten des Mittelalters entdecken wird.