Im Jahr 2009 legten Archäologen des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt bei Ausgrabungen auf der Gemarkung Oberwünsch (Saalekreis) am Grund einer Siedlungsgrube aus der späten Bronzezeit (ca. 1.200 – 800 v. Chr.) einen einzelnen Schädel und eine Hand frei. Weitere Skelettreste fanden sie nicht. Der Befund war so ungewöhnlich, dass beschlossen wurde, die Grubensohle im Block zu bergen, um den Fund unter Werkstattbedingungen untersuchen zu können. Erst bei den Einschalungsarbeiten für die Blockbergung wurde offenbar, dass die Grubensohle noch eine weitere Überraschung bereithielt: Deutlich unterhalb der menschlichen Körperteile wurde ein Bronzehort entdeckt. Diese einmalige Auffindungsgeschichte erwies sich im Nachhinein in zweierlei Hinsicht als großes Glück. Einerseits konnte der besondere Fund nun in der Restaurierungswerkstatt mit größter Akribie frei gelegt werden, was zu außergewöhnlichen Erkenntnissen führte. Andererseits wäre der Hort ohne die Blockbergung möglicherweise nie gefunden worden. Denn in der Restaurierungswerkstatt zeigte sich, dass die Bronzen in einem kleinen Schacht niedergelegt worden waren, der von der Sohle der großen Grube aus weiter abgeteuft war. Danach hatte man diesen Schacht mit dem anstehenden Boden so wieder verfüllt, dass er – als die Ausgrabung die eigentliche Grubensohle erreicht hatte – selbst unter Laborbedingungen nicht erkennbar war.
Ein Hortfund wird durchleuchtet
Der Bronzehort gehört schon allein aufgrund der Menge und Qualität seiner Bestandteile zu den bedeutendsten Funden dieser Kategorie aus den letzten Jahrzehnten. Er besteht aus mindestens 120 Einzelteilen, darunter 15 Halsringe, 2 Fibeln (Gewandschließen), 2 Hakenspiralen, 5 Arm- und Fußringe, 2 Pinzetten und eine große Anzahl an Schmuckscheiben und Gehängen aus Spiralscheiben, Spiralrollen und Ringen. Zur Untersuchung des Fundes wurde erstmals in dieser Qualität die Computertomographie eingesetzt. Dadurch ist es möglich, die Bronzen in ihrer ursprünglichen Lage zu belassen und dennoch die einzelnen Bestandteile des Hortes zu analysieren. Als Ergebnis entstand ein dreidimensionales, transparentes Modell des Hortfundes. Es zeigt, dass viele der Objekte nicht einzeln abgelegt wurden, sondern Teile komplexer Gebilde waren, die durch Textilien oder Leder zusammengehalten wurden. Die Bronzen selbst stammen aus der zweiten Hälfte des 10. Jh. v. Chr. bzw. der Zeit um 900 v. Chr. Einige Schmuckobjekte sind so charakteristisch für den mitteldeutschen Raum, dass sie in der Region gefertigt worden sein müssen. Andere weisen auf Beziehungen zum Norden hin. Ganz offensichtlich stellt der Hortfund nicht den Besitz eines einzelnen Menschen, sondern einer Menschengruppe dar. Denn es treten Objekte sowohl der weiblichen als auch der männlichen Tracht und Ausstattung auf. Die großen Schmuckscheiben werden als Zierrat an Pferdegeschirren angesehen. Mit Hilfe der modernen Analytik wird es noch gelingen, viele Fragen über Herkunft und Aussehen der in dieser Form zuvor nicht überlieferten Objekte zu beantworten.
Eine rituelle Opferung?
Auch die Untersuchung der Skelettteile aus der Siedlungsgrube von Oberwünsch, die durch Christian Meyer M. A., Dipl. Biol. Ole Warnberg und Prof. Dr. Kurt W. Alt vom Institut für Anthropologie der Universität Mainz erfolgte, erbrachte spektakuläre Ergebnisse. Wie die Lage im korrekten anatomischen Verband zeigt, müssen der Schädel zusammen mit den drei ersten Wirbeln der Halswirbelsäule sowie die Hand, die deutlich oberhalb des Bronzehortes in derselben Grube lagen, etwa zum Zeitpunkt des Todes gewaltsam vom restlichen Körper abgetrennt und absichtlich in der Siedlungsgrube niedergelegt worden sein. Während die Hand lediglich als die linke Hand eines erwachsenen Individuums angesprochen werden kann, stammt der Schädel eindeutig von einem männlichen Individuum, das im Alter von ca. 45 bis 60 Jahren starb. Dass dennoch beide von ein und demselben Individuum stammen, legen die Ergebnisse der genetischen Analyse nahe. Der Schädel zeigt eine Verletzung, die zum Todeszeitpunkt des Mannes bereits seit Jahren oder Jahrzehnten verheilt war, mit seinem Tod also nicht in Verbindung zu bringen ist. Eine andere Beobachtung gibt zwar ebenfalls keinen Aufschluss über die Todesursache, wohl aber zu den Umständen der Niederlegung der Skelettteile: Der dritte (und unterste vorhandene) Halswirbel weist zwei kleine parallele Schnittspuren auf. Sie widersprechen dem ersten, durch die isoliert aufgefundenen Skelettteile unwillkürlich hervorgerufenen Eindruck, dass es sich hier um die sterblichen Überreste eines Enthaupteten handelt. Denn für eine Enthauptung wäre wohl ein Schwert zum Einsatz gekommen. Dieses hätte ganz andere Spuren, etwa komplett durchtrennte Halswirbel, hinterlassen. Die feinen Schnittspuren belegen vielmehr, dass der Hals kurz nach dem Tod des Mannes sorgsam mit einem Messer durchtrennt wurde. Dass der Mann allerdings nicht freiwillig aus dem Leben geschieden war, beweist eine längliche Schnittspur an der Innenseite des Zeigefingers der neben dem Schädel gefundenen linken Hand. Sie ist nicht verheilt, wurde dem Mann also kurz vor seinem Tode beigebracht und kann als Abwehrverletzung interpretiert werden. Sie deutet somit auf einen Kampf hin.
Die absichtliche Niederlegung der Skelettteile in unmittelbarer Nähe zum Bronzehort wirft natürlich die Frage auf, ob zwischen beiden Funden ein Zusammenhang besteht. Die Vermutung eines kultisch-rituellen Hintergrundes liegt zumindest auf den ersten Blick nahe, jedoch lässt sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit letzter Sicherheit beweisen.
Fundgrube ICE-Trasse
Der Hortfund ist eine von mehreren außergewöhnlichen Entdeckungen bei den Ausgrabungen, die das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt über 17 Jahre hinweg im Vorfeld des Neubaus der ICE-Strecke Erfurt - Halle/Leipzig durchführte. In Spitzenzeiten waren bis zu 150 Mitarbeiter damit beschäftigt, auf einer untersuchten Fläche von etwa 140 ha insgesamt 15.000 Befunde und weit über 400.000 Fundstücke zu dokumentieren. Im Mai dieses Jahres zogen die Archäologen auf einem wissenschaftlichen Kolloquium ein erstes Resümee, erst vor gut einer Woche präsentierten sie eine andere archäologische Seltenheit: farbigen Wandputz eines eisenzeitlichen Hauses, der in mühevoller Kleinarbeit aus zahlreichen Fragmenten wieder zusammengesetzt wurde.