Die Seen im Norden Griechenlands und im südlichen Balkan stellen ein einzigartiges Archiv der europäischen Kultur- und Umweltgeschichte dar, doch bis heute sind sie kaum erforscht. Nun will ein auf Initiative der Universität Bern zusammengestelltes internationales Team diesen Wissensschatz heben. Das auf fünf Jahre angelegte Grossprojekt nennt sich EXPLO (Exploring the dynamics and causes of prehistoric land use change in the cradle of European farming) und betritt Neuland: Unterwasserarchäologie wird zum ersten Mal mit Methoden der Ökologie, Biologie und Klimawissenschaft kombiniert. Und es setzt bei der Rekonstruktion des Zusammenspiels von Klima und Mensch auf dynamische Computermodelle. Ziel ist, den Anpassungsstrategien auf die Spur zu kommen, mit denen die frühen Bauerngesellschaften auf veränderte Klima- und Umweltbedingungen reagiert haben.
Diese innovativen Ansätze haben die Gutachter des Europäischen Forschungsrats überzeugt. EXPLO ist eines von 27 europäischen Projekten, dem diese Woche ein sogenannter »ERC Synergy Grant« zugesprochen wurde. Es handelt sich dabei um die höchste Stufe der Exzellenz-Förderung der Europäischen Kommission. Das grosszügig ausgestatte Förderinstrument unterstützt interdisziplinäre Vorhaben, die höchsten wissenschaftlichen Kriterien genügen müssen, und ist unter Forschenden heiss begehrt. Weniger als 10 Prozent der eingereichten Anträge werden bewilligt. Der »Synergy Grant« wurde zum zweiten Mal ausgeschrieben und geht erstmals an die Universität Bern. Initiiert haben EXPLO die Berner Albert Hafner, Professor für Prähistorische Archäologie, und Willy Tinner, Professor für Paläoökologie. Ebenfalls am Projekt beteiligt sind die Professoren Amy Bogaard und Kostas Kotsakis von den Universitäten Oxford und Thessaloniki.
Wiege der europäischen Landwirtschaft
Albert Hafner hat sich international einen Namen als Prähistoriker und Spezialist unter anderem für Seeufersiedlungen und Unterwasserarchäologie gemacht. Auf seine Initiative geht unter anderem das Unesco-Welterbe »Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen« zurück, das 111 Fundstellen aus den sechs Alpenanrainer-Staaten umfasst. Auch die Ufer von etwa einem Dutzend Seen im südlichen Balkan waren im Neolithikum und in der Bronzezeit besiedelt. Doch im Gegensatz zu den seit 150 Jahren erforschten Fundstätten im Alpenraum ist darüber sehr wenig bekannt. »Die bisher praktisch nicht untersuchten Fundstellen sind von ausserordentlichem wissenschaftlichem Wert«, erklärt Albert Hafner. »Sie könnten sich als genauso wichtig erweisen wie die neolithischen und bronzezeitlichen Seeufersiedlungen rund um die Alpen.«
EXPLO will prähistorische Siedlungsstandorte in Seen und Uferzonen untersuchen. Hier haben sich tausende von Baustrukturen aus Holz erhalten. Diese Hölzer dienen als Grundlage für die Dendrochronologie, einer Methode, die sich Jahrringkalender von Eichen und Nadelhölzern zu Nutze macht. Die Methode erlaubt hochpräzise Datierungen und bildet das Rückgrat des Projekts. Geplant sind Ausgrabungen und Probenentnahmen in den grossen Ohrid-, Prespa- und Kastoriaseen. All diese Standorte liegen in einem kulturhistorisch sehr interessanten Gebiet: der Wiege der europäischen Landwirtschaft. Hier gelangten vor mehr als 8.000 Jahren landwirtschaftliche Techniken aus dem Westen Asiens nach Europa. Die Analyse von Seesedimenten soll zeigen, wie sich die Landnutzung, aber auch die klimatischen Bedingungen in dieser Region im Lauf der Zeit verändert haben.
Lernen von prähistorischen Bauern
Willy Tinner ist ein weltweit führender Paläoökologe, der in vielen Regionen der Welt die Klima- und Vegetationsgeschichte erforscht. Er will aus der wechselvollen Vergangenheit Lehren für die Zukunft ziehen. »Ziel von EXPLO ist, die komplexen Beziehungen zwischen der prähistorischen Bevölkerung und ihrer Umwelt verstehen«, sagt Tinner, »und so ein neues Fenster auf die langzeitlichen Folgen öffnen, die der Übergang zur Landwirtschaft für die Ökosysteme mit sich brachte.« Umgekehrt soll das Projekt auch aufzeigen, wie die frühe Landwirtschaft mit Umweltveränderungen zurechtkam. Das Wissen darum, wie menschliche Gesellschaften in der Vergangenheit auf solche Herausforderungen reagierten, ist mit Blick auf die Folgen des Klimawandels von wachsender Bedeutung.
Das von der Europäischen Kommission ausgezeichnete Vorhaben ist das Ergebnis jahrelanger Forschungen und Kontaktpflege. Albert Hafner baute im südlichen Balkan über vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekte ein wissenschaftliches Netzwerk auf und bildete vor Ort Unterwasserarchäologen aus. Teams der Universität Bern haben 2016 und 2018 Probebohrungen und Testgrabungen in nordgriechischen Seen und im Ohridsee durchgeführt. Sie haben gezeigt, dass die gehobenen Sedimentkerne ein höchst ergiebiges Umweltarchiv darstellen und die archäologischen Fundstellen von höchster Qualität sind. Albert Hafner und Willy Tinner sind Mitglieder des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung (OCCR) der Universität Bern. Dessen interdisziplinäre Ausrichtung wird bei der Auswertung der in EXPLO gesammelten Datenquellen von grosser Bedeutung sein. So sollen mehr als 1000 Radiokarbon-Analysen im C14 -Datierungslabor des OCCR durchgeführt werden.