Berg Athos, wie die gesamte Halbinsel nach ihrem höchsten Gipfel auch genannt wird, ist mit einer Fläche von rund 336 Quadratkilometern etwas größer als München. Auf diesem Gebiet befinden sich heute 20 Klöster orthodoxer Mönche und zusätzlich kleinere klosterähnliche Siedlungen. Hier leben etwa 2.300 Mönche, der Zutritt für Frauen und weibliche Tiere ist nicht erlaubt. Nach den ersten Niederlassungen im 9. Jahrhundert erlebte der isolierte Landstrich auf dem östlichen Finger der Halbinsel Chalkidiki einen Zustrom von Mönchen aus dem gesamten Byzantinischen Reich und darüber hinaus. Griechen aus dem europäischen und asiatischen Teil des Byzantinischen Reichs, Georgier aus dem Kaukasus, Bulgaren und Serben vom südlichen Balkan, Rumänen und Walachen vom nördlichen Balkan, Bewohner der Rus im Osten und selbst nichtorthodoxe Christen aus dem südlichen Italien zog es nach Athos, dem »Balkan in Kleinausgabe«, wie er auch bezeichnet wird.
Datenbasis von voraussichtlich 10.000 bis 20.000 Personen als Grundlage
»Wir werden nun zum ersten Mal umfassend untersuchen, welche Rolle die mönchischen Gemeinschaften auf dem Berg Athos als unabhängige Akteure in der mittelalterlichen Gesellschaft des östlichen Mittelmeerraums gespielt haben«, erklärt Zachary Chitwood zu dem Projekt. Er und sein Team werden zunächst eine Datensammlung für den Zeitraum von etwa 850 bis 1550 erstellen, also von der Zeit der ersten Dokumente an, die in den Archiven des Athos überlebt haben, bis zur Gründung des letzten großen Athos-Klosters, Stavronikita. Für diese Spanne von 700 Jahren werden alle Mönche, die auf dem Heiligen Berg gelebt haben, jeder Wohltäter und jeder Besucher in einer Datenbank erfasst.
»Wir möchten jede Person, die irgendwie mit dem Berg in diesem Zeitraum zu tun hatte, in diese Datenbank aufnehmen«, erklärt Chitwood. Ersten groben Schätzungen zufolge dürfte es sich dabei um 10.000 bis 20.000 urkundlich belegte Personen handeln. »Anhand dieser Datenbasis können wir dann analysieren, wie die mittelalterliche Klostergemeinschaft von Athos in größere Netzwerke von wirtschaftlichen Interessen, Kirchenleitung, intellektuellem Austausch und Patronat eingebunden war.«
Als Quellen für die Erhebungen dienen Akten und Urkunden der Klosterarchive, die zu einem großen Teil schon veröffentlicht sind. Besonders innovativ ist, dass außerdem Kommemorationslisten genutzt werden, die bis jetzt kaum Beachtung fanden. Diese Aufstellungen umfassen die Namen von Mönchen, kirchlichen Oberhäuptern und Stiftern, die nach ihrem Tod regelmäßig in Andachten erwähnt wurden. Die Datenbank wird später auch anderen Wissenschaftlern zur Verfügung stehen, sodass in den gesamten Geisteswissenschaften damit gearbeitet werden kann.
Leitmotive Reichtum, Ethnizität und Geschlecht
Drei Aspekte oder Leitmotive stellt Chitwood in den Mittelpunkt seiner Untersuchung: Reichtum, Ethnizität und Geschlecht. Trotz Vorbehalten gegen klösterlichen Besitz hatten die Athos-Klöster bis zum späten Mittelalter den größten Landbesitz in der byzantinischen Welt angehäuft mit Besitztümern, die größer waren als die der wohlhabendsten aristokratischen Familien. Der Besitz erstreckte sich nicht nur auf Griechenland, sondern den gesamten Balkanraum. In der Forschung wird von einem »Schweizer Syndrom« gesprochen: Die Mönchsrepublik Berg Athos war eine Art Steueroase, wo wohlhabende Schichten ihr Geld vorteilhaft investieren konnten.
Zweiter zentraler Punkt ist die Ethnizität der Gemeinschaft. Fast jede orthodoxe Kirche war auf dem Berg Athos mit einem Kloster vertreten – und auch heute noch findet man eine große ethnische Vielfalt. »Aber bisher verfügen wir über kein Mittel, um dies statistisch möglichst präzise zu erfassen und für bestimmte Zeitabschnitte zu dokumentieren«, so Chitwood mit einem Hinweis darauf, dass die Datenbank später Grundlagen liefern wird, um vertieft über Ethnizität in Byzanz diskutieren zu können.
Schließlich wird sich das Team um Chitwood dem Thema »Abwesenheit von Frauen« auf dem Athos widmen. Bislang ist nicht genau bekannt, in welchem Kontext und warum das Verbot entstanden ist, dass weibliche Lebewesen generell das Gebiet nicht betreten dürfen. »Unser Ziel ist es, die historischen Hintergründe zu verstehen und die konkreten Umstände zu kennen, ebenso wie die Ausnahmefälle, die es tatsächlich gegeben hat«, so Chitwood. Im Rahmen der Gender-Frage wird auch die für Byzanz zeitweise sehr wichtige politische Rolle von Eunuchen analysiert, die ab einem bestimmten Zeitpunkt den Athos ebenfalls nicht mehr betreten konnten.
Erster ERC Grant in den Geisteswissenschaften der JGU
Zachary Chitwood, geboren 1983 in den USA, hat zunächst am Ripon College in Wisconsin studiert. Dann erfolgte ein Studium der mittelalterlichen und byzantinischen Geschichte an der weltweit hoch angesehenen Princeton University und anschließend ebendort eine Promotion über das byzantinische Recht unter der makedonischen Dynastie. 2012 kam Zachary Chitwood nach Deutschland, zunächst als Postdoc an die Humboldt-Universität zu Berlin und 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Arbeitsbereich Byzantinistik der JGU unter der Leitung von Prof. Dr. Johannes Pahlitzsch. Die ERC-Förderung für das fünfjährige Forschungsprojekt »Mount Athos in Medieval Eastern Mediterranean Society: Contextualizing the History of a Monastic Republic (ca. 850-1550)« ist der erste ERC Grant in den Geisteswissenschaften an der JGU. An dem Projekt werden außer Chitwood als Byzantinist mit Schwerpunkt auf den griechischen Quellen auch Slavisten und Georgien-Forscher arbeiten.
Beim ERC Starting Grant handelt es sich um eine der höchstdotierten Fördermaßnahmen der EU, die an junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vergeben wird. ERC Starting Grants unterstützen herausragende Wissenschaftler am Anfang ihrer Karriere, wenn sie ihr eigenes Forschungsteam oder Forschungsprogramm aufbauen. Zusätzlich zur wissenschaftlichen Exzellenz müssen die Antragsteller den bahnbrechenden Ansatz ihres Projekts und seine Machbarkeit nachweisen, um die Förderung zu erhalten.