Die dunkle Seite der Religion - Wie Menschenopfer halfen, hierarchische Gesellschaften aufzubauen
»Religion wird traditionell als ein Schlüsselfaktor für Moral und Kooperation in Ge-sellschaften gesehen, aber unsere Studie zeigt, dass religiöse Rituale noch eine andere, dunkle Rolle bei der Entwicklung moderner Gesellschaften spielen«, sagt Joseph Watts von den Universität Auckland, Hauptautor der Studie.
Das Forschungsteam verwendete computerbasierte Methoden aus der Evolutions-biologie, um die Daten von 93 historischen Kulturen des sogenannten austronesi-schen Raums zu analysieren. Menschenopfer waren in den analysierten Gesellschaften weit verbreitet: 40 von ihnen praktizierten in der einen oder anderen Form ritualisierte Tötungen. Der Begriff »austronesisch« bezieht sich auf eine große Sprachfamilie, deren Ursprungsland Taiwan ist und deren Verbreitungsgebiet, sich über weite Teile des indischen und Teile des pazifischen Ozeans erstreckt. Austronesische Kulturen bilden eine Art natürliches Labor für interkulturelle Studien, da sie eine riesige Bandbreite an Religionen, Sprachen, Gesellschaftsgrößen und -formen aufweisen und in unterschiedlichsten klimatischen und geografischen Regionen angesiedelt sind.
Die Methoden der rituellen Tötungen in diesen Kulturen waren vielfältig und teilweise extrem grausam. Anlass für die Tötung konnte zum Beispiel das Begräbnis eines Anführers, die Einweihung eines neuen Bootes oder Hauses oder die Bestrafung für die Verletzung von Traditionen oder Tabus sein. Die Opfer hatten typischerweise einen niedrigen sozialen Status, sie waren beispielsweise Sklaven, während die Initiatoren der Menschenopfer normalerweise zu den gesellschaftlichen Eliten gehörten, wie zum Beispiel Priester oder Häuptlinge.
Für die Studie unterteilten die Wissenschaftler die 93 unterschiedlichen Kulturen in drei Kategorien mit geringer, moderater oder starker soziale Schichtung. Dabei zeigte sich, dass die Kulturen mit den am stärksten ausgeprägten Hierarchien am ehesten Menschenopfer praktizierten(67 Prozent). Bei den Kulturen mit moderater sozialer Schichtung lag der Anteil bei 37 Prozent und bei den am wenigsten hierarchisch gegliederten Gesellschaften war dieser Anteil mit 25 Prozent am geringsten.
»Die Machthaber benutzten Menschenopfer dazu, Tabubrüche zu bestrafen, die Angehörigen der unteren sozialen Schichten zu entmutigen und ihnen Angst einzuflößen. Dadurch waren sie in der Lage, soziale Kontrolle aufzubauen und zu verstärken«, sagt Joseph Watts.
Russell Gray, Direktor der Abteilung Sprach- und Kulturevolution am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und Co-Autor der Studie, erläutert: »Menschenopfer boten ein besonders effektives Mittel der sozialen Kontrolle, da sie eine übernatürliche Rechtfertigung für die Bestrafung lieferten. Herrscher, wie Priester und Häuptlinge, galten oft als Gesandte der Götter, und die rituelle Tötung eines Menschen war die ultimative Demonstration ihrer Macht.«
Ein besonderes Merkmal der Studie ist, dass das Team durch die Anwendung computerbasierter evolutionärer Methoden rekonstruieren konnte, wie sich in der Geschichte des pazifischen Raums das Ritual des Menschenopfers und die sozialen Unterschiede innerhalb der jeweiligen Gesellschaft verändert haben. Auf diese Weise konnten die Wissenschaftler untersuchen, ob die Praxis der Menschenopfer eine Folge der Hierarchien oder der Auslöser für weitere Veränderungen in der sozialen Schichtung der Gesellschaften war.
Laut Quentin Atkinson von der Universität Auckland, einem weiteren Co-Autor der Studie, waren Menschenopfer ein wesentlicher Faktor für die Etablierung sozialer Differenzen: »Wie unsere Ergebnisse zeigen, führten solche Tötungsrituale dazu, dass Gesellschaften mit hoher Wahrscheinlichkeit eine starke Hierarchie entwickelten und eher nicht zu einer egalitären Gesellschaftsform zurückkehrten.«
Publikation
Watts, J., Sheehan, O., Atkinson, Q.D., Bulbulia, J., & Gray, R.D.: Ritual human sacri-fice promoted and sustained the evolution of stratified societies, Nature (2016)
DOI: 10.1038/nature17159