Den Auftakt für die grundlegende Aufarbeitung der gesamten Pfalz bildete die Dachsanierung des Granusturmes, da das dafür nötige Gerüst gleichzeitig für eine umfassende Bauaufnahme der Außenwände genutzt wurde. Beim Granusturm handelt es sich um den am höchsten erhaltenen Teil der kurz vor 800 erbauten karolingischen Königshalle, der sogenannten Aula Regia, in deren Überresten im 14. Jahrhundert das Aachener Rathaus errichtet wurde. Leider gibt es bisher nur Vermutungen über das Aussehen, die Funktion und zum Teil auch die Lage der gleichzeitig mit der Pfalzkirche errichteten Bauten. So existierten neben der Königshalle und dem Granusturm noch ein Verbindungsgang, der durch einen Querbau geteilt wurde, und zahlreiche andere in den Quellen genannte Gebäude. Gründe für diese Forschungslücken sind vor allem eine fehlende Dokumentation der erhaltenen Bausubstanz sowie eine unzureichende Aufarbeitung der Befunde aus den Altgrabungen und der schriftlichen Quellen.
Diese Wissenslücken sollen nun in den nächsten Jahren geschlossen werden. In einer Kooperation des Lehr- und Forschungsgebietes Denkmalpflege mit dem Lehrstuhl für Baugeschichte erfolgt eine genaue Dokumentation des Baubestandes und die Sichtung aller Archivalien. Hierfür stehen 398.000 Euro aus dem von Bund und Stadt geförderten »Investitionsprogramm nationale UNESCO-Welterbestätten: Pfalzenforschung aus der Perspektive der Bauforschung« zur Verfügung. Im Umfang von 250.000 Euro fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das Projekt »Die Aula Regia in Aachen – Karolingische Königshalle und spätmittelalterliches Rathaus«, das die Analyse und bauhistorische Einordnung der mittelalterlichen Baubefunde zum Ziel hat. Die Aufarbeitung der Altgrabungen des letzten Jahrhunderts koordiniert der Lehrstuhl für Mittlere Geschichte. Auch hier liegen Mittel aus dem »Investitionsprogramm nationale UNESCO-Welterbestätten« im Umfang von 240.000 Euro bereit.
Für die Denkmalpfleger und Bauhistoriker steht die Bausubstanz im Mittelpunkt der Betrachtung. Mit 3D-Scans, fotogrammetrischen Bildentzerrungen, computergestütztem tachymetrischem Aufmaß, aber auch detaillierten Handzeichnungen werden Materialien, Konstruktionen und Bauteile festgehalten. Hinzu kommen Analysen des Putzes und petrografische Gutachten, die Aussagen zur Herkunft des verwendeten Steinmaterials erlauben. »Das Ergebnis wird ein Bauphasenplan sein, mit dessen Hilfe genau ersichtlich ist, welche baulichen Maßnahmen mit welchen Auswirkungen zu welcher Zeit in der Gesamtanlage des Rathauses vorgenommen worden sind. Insofern wird erstmals in einer Gesamtschau nachvollziehbar sein, welche Veränderungen es in der Romanik und Gotik, im Barock sowie im 19. und 20. Jahrhundert gegeben hat. Wir hoffen, am Ende die bauliche Genese des Aachener Rathauses im Kontext der gesamten Pfalzanlage beschreiben zu können«, so Professor Dr.-Ing. Christian Raabe vom Forschungsgebiet Denkmalpflege an der Universität Aachen.
Die bisherigen Forschungen lassen beispielsweise erkennen, dass es hinsichtlich der für den Granusturm verwendeten Baumaterialien und Bauweisen deutliche Parallelen zur Pfalzkirche gibt. Die Handwerker haben allerdings beim Kirchenbau einheitlichere bzw. großformatigere Steine verwendet als beim Bau des Turms und es wurde präziser gearbeitet. »Doch mit jeder Antwort tauchen neue Fragen auf, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den kommenden Monaten beschäftigen werden«, weiß Raabe. Wie hat man um 800 ein mehr als 20 Meter hohes und im Inneren sehr komplexes Gebäude wie den Granusturm geplant und abgesteckt? Wie wurden die einzelnen Gebäude der Pfalz genutzt und wie waren sie miteinander verbunden? Inwieweit kann man die Anlage rekonstruieren? Hier sollen Vergleiche mit anderen Pfalzen und Bauten aus der Spätantike und dem Frühmittelalter Aufschluss geben.
Der interdisziplinäre Ansatz von Bauforschung, Denkmalpflege, Archäologie und Mediävistik bedeutet auch aus Sicht von Professor Dr. Harald Müller vom Historischen Institut einen inhaltlichen Quantensprung: »Seit 1910 sind archäologische Grabungen im Pfalzbereich erfolgt, die weder systematisch ausgewertet noch gänzlich veröffentlicht worden sind«, stellt der Lehrstuhlinhaber für Mittlere Geschichte fest. Auch wurde in den vergangenen Jahrzehnten selten disziplinenübergreifend geforscht. »Erstmals werden wir nach Abschluss der Forschungsarbeiten in etwa drei Jahren alle bisherigen Ergebnisse einheitlich zusammenführen, mit den Schriftquellen abgleichen und veröffentlichen. Ziel ist ein durch Dr. Sebastian Ristow erarbeiteter archäologischer Befund- und Phasenplan sowie ein Geländemodell des Pfalzbereichs von der Römerzeit bis heute.« Und soviel verrät er schon heute: »Die Vorstellung vom karolingischen Aachen, wie sie vor allem das von Leo Hugot gebaute Modell der Pfalz aus den 60er Jahren geprägt hat, müssen wir wohl in Teilen revidieren.«
Im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2014, in dem an den 1200. Todestag Karls des Großen erinnert wird, sind also durchaus noch einige Überraschungen zu erwarten. Die Leiterin der Abteilung für Denkmalpflege und Stadtarchäologie Monika Krücken freut sich schon jetzt auf die Ergebnisse der Forschungen über »eine der bedeutendsten Herrscherstätten des Mittelalters in Europa«, die seitens der Stadt Aachen angestoßen und beauftragt wurden.