Das Westallgäu in der Region um die heute wachsende Stadt Leutkirch war bereits vor mehr als 3.000 Jahren, in der Bronzezeit, dichter besiedelt als bislang angenommen. Das ergaben jüngste Arbeiten von Forscherinnen und Forschern aus der Archäologie und Geografie im Sonderforschungsbereich 1070 RessourcenKulturen der Universität Tübingen. Dabei sei die Region mit feuchtem Klima und langen harten Wintern kein besonders günstiger Siedlungsraum gewesen, so das Team. Die schmelzenden Gletscher der letzten Eiszeit hätten kiesige Böden hinterlassen und die Region liege höher als die angrenzenden Gebiete im Norden und Westen, die wärmer seien und über bessere Böden verfügten. Diese Nachteile wurden aus Sicht der prähistorischen Menschen offenbar durch die günstige Lage an großen Fernhandelsrouten wieder wettgemacht. Erste Ergebnisse der Nachforschungen wurden in der neuesten Ausgabe der Archäologischen Ausgrabungen in Baden-Württemberg, dem Jahrbuch der Landesdenkmalpflege, veröffentlicht.
Das Forschungsteam führt seit 2017 Ausgrabungen bei Leutkirch durch, die unter anderem eine befestigte Bergkuppe zutage brachten; Grabhügel markieren ein zugehöriges Gräberfeld, und im darunter liegenden Tal befanden sich weitere Siedlungen. Bodenanalysen zeigten weit verbreitete Erosion in dieser Zeit, was darauf hindeutet, dass um 1500 v. Chr. Wälder abgeholzt wurden, um Nahrung für eine Bevölkerung beträchtlicher Größe anzubauen.
»Der Umfang der bronzezeitlichen Besiedlung, der jetzt deutlich wurde, verändert unser ganzes Bild von der Region zu dieser Zeit«, sagt Benjamin Höpfer, Doktorand im Teilprojekt »Gunst – Ungunst? Ressourcenerschließung in Marginalräumen«. »Das prähistorische Allgäu war keineswegs menschenleer. In der Bronzezeit dürfte es – ähnlich wie heute – viele einzelne Höfe und einige kleine Dörfer gegeben haben.«
Wachsende Bedeutung des Fernhandels
Warum aber entschieden sich die Menschen der Bronzezeit für ein Leben an einem kalten, nassen Ort auf steinigem Boden? Das habe mit der günstigen Lage des Allgäus zwischen Alpen, Donau, Iller, Rhein und Bodensee zu tun – allesamt wichtige Verkehrsadern, so das Forschungsteam. Es habe eine Brücke zwischen den Regionen in einem breiten, gesamteuropäischen prähistorischen Wirtschaftsraum gebildet. »Selbst die Alpen waren nicht nur ein Hindernis, sondern auch eine wich-tige Handelsdrehscheibe. Der Fernhandel wurde immer wichtiger, und dabei spielten Flusstäler als Wegstrecken und Höhenzüge als Orientierungspunkte eine wichtige Rolle«, erklärt Höpfer. Im gan-zen Alpenvorland gibt es entlang der Flüsse und an den Seen viele Fundstellen, an denen auch Importwaren nachgewiesen wurden, etwa Kupfer aus den Ostalpen und Zinn aus Cornwall für die damaligen Bronzelegierungen. Kupfer, Zinn, Bernstein – diese und viele andere Rohstoffe seien entlang der hier verlaufenden Routen gehandelt worden. Neu sei, dass im Westallgäu parallel dazu nun auch eine dauerhafte bäuerliche Besiedlung nachgewiesen wurde.
Gleichzeitig sei die Bronzezeit ein Zeitalter großer technischer Innovationen gewesen, betont Höpfer. Die Metallbearbeitung lieferte neue Werkzeuge. Die Bronzesichel erleichterte den Bauern, nicht nur Getreide, sondern auch Stroh und Heu zu ernten. Diese wurden an Tiere verfüttert, die Milch, Fleisch, Häute und Wolle lieferten. Kreuzungen führten zu neuen, widerstandsfähigeren Getreidesorten, darunter auch Dinkel, und zu Tieren, die sich an härtere Bedingungen anpassen konnten. All dies machte das Leben auch im Westallgäu attraktiver. Mit ihrer Arbeit investierten die Menschen in das Land, um an einer wichtigen Handelsroute leben zu können. »Sie akzeptierten nicht nur passiv, was die Natur ihnen bot. Das verändert unser Bild von den prähistorischen Menschen.«
Das Allgäu ist bisher auf der archäologischen Landkarte weitgehend leer geblieben. »Das ist auch darauf zurückzuführen, dass die Region weit entfernt von den Universitäten und den zuständigen Denkmalschutzbehörden liegt. Es wurde weniger gegraben, und Baustellen, bei denen oft archäologische Überreste freigelegt werden, konnten weniger gut beaufsichtigt werden als andernorts«, erklärt Höpfer. Gerade in Zeiten des anhaltenden Baubooms gäbe es noch viel zu entdecken. »Wir haben nur an der Oberfläche gekratzt«, sagt er.