Es ist der Traum aller Altertumswissenschaftler: Die Entdeckung eines bisher unbekannten Textes der Antike. Einer Wissenschaftlerin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist dieser spektakuläre Fund gelungen. Noch während ihres Doktoratsstudiums an der Universität Wien hat Giulia Rossetto im Rahmen des Sinai Palimpsests Project mittelalterliche Pergamentblätter gefunden, die bisher unbekannte Texte aus der Zeit Homers preisgeben, die in späteren Jahrhunderten mit anderen Texten überschrieben worden waren. Ein Artikel über die einzigartige Entdeckung ist jetzt in der Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik veröffentlicht.
"Es ist ein poetischer Text in Hexametern, also dem klassischen Versmaß der epischen Dichtung. Dieser entstammte einem Epos, das ursprünglich wahrscheinlich 24 Bücher umfasste, und dessen Existenz bisher nur indirekt belegt war", sagt Giulia Rossetto vom Institut für Mittelalterforschung der ÖAW. In mühsamer Arbeit konnte sie Buchstaben für Buchstaben der ausradierten Schrift auf den beiden Pergamentblättern entziffern. Die Erwähnung des Namen Dionysos, des antiken Gottes des Weines, war ein wichtiger Hinweis auf die Bedeutung des Textes, erzählt sie.
Mittels Multispektralfotografie und anschließender computergestützter Bildanalyse konnte das in sehr schlechtem Zustand erhaltene Fragment schließlich wieder lesbar gemacht werden. Inhaltlich kreist der Text um die Kindheit des Gottes Dionysos. Es werden Spielzeug und Geschenke erwähnt, die von Widersachern – den Titanen – eingesetzt werden, um das Kind abzulenken.
"Diese Details waren bisher nur aus der indirekten Überlieferung, also aus Zitaten in anderen Werken bekannt. Jetzt haben wir zum ersten Mal den Originaltext vorliegen, auf den diese Zitate zurückgehen", sagt Claudia Rapp, Professorin an der Universität Wien und Leiterin der Abteilung Byzanzforschung an der ÖAW. Bis in die Spätantike war der Text bekannt: der Schriftstil deutet darauf hin, dass er noch im 5. oder 6. Jahrhundert in Ägypten kopiert wurde. Dazu Rapp: "Kulturgeschichtlich ist diese Entdeckung von größtem Interesse, denn sie zeigt, dass noch im 5. oder 6. Jahrhundert in Ägypten aktives Interesse an religiösen Texten aus der heidnischen Antike bestand, zu einer Zeit also, als das Christentum dabei war, sich im Römischen Reich fest zu etablieren."
In den Jahrhunderten danach wurde der Text allerdings ausradiert, um das kostbare Pergament als Beschreibstoff neu zu verwenden. Solche sogenannten Palimpseste waren eine Form des mittelalterlichen Recyclings, berichten die ÖAW-Forscherinnen und -Forscher. Im frühen 10. Jahrhundert wurden die Blätter neu beschrieben, diesmal im christlichen Kloster Mar Saba in der Nähe von Jerusalem von arabisch-sprachigen Mönchen, und zwar mit Lebensbeschreibungen von Heiligen.
Danach verliert sich ihre Spur bis 1975 im Katharinenkloster im Sinai ein Raum für nicht mehr genutztes Handschriftenmaterial erneut geöffnet wurde. Die ausradierten Texte im Sinai stammten aus mindestens vier verschiedenen Mutterhandschriften in zwei verschiedenen Sprachen: Griechisch und Christlich-Palästinisches Aramäisch — eine liturgische Sprache, die seit dem 13. Jh. nicht mehr verwendet wurde und hauptsächlich durch Palimpsestfunde wie den nunmehr publizierten bekannt ist.
Publikation
Fragments from the Orphic Rhapsodies? Hitherto Unknown Hexameters in the Palimpsest Sin. ar. NF 66
Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 219 (2021), 34–60.