Ausgrabungen in Burg Niendorf - ein Blick in die Geschichte Sachsen-Anhalts
Im feuchten Milieu im Moorbereich trat eine exzellent erhaltene Konstruktion aus mächtigen Eichenbalken zutage, die von einer Burganlage aus dem 11. Jh. stammt. Die eindrucksvolle Wehranlage kann aufgrund ständig nachdrückenden Schichtenwassers nur langsam abschnittsweise freigelegt werden. Es lässt sich jedoch bereits erkennen, dass es sich um eine wahrscheinlich quadratische, kastellartige Befestigung mit ca. 35 m Seitenlänge gehandelt hat. Die Vorderseiten der Befestigungswälle bestanden aus massiven Bohlen, hinter denen grob zurechtgehauene Eichenstämme saßen. Die Längshölzer waren im rechten Winkel mit Stämmen verkämmt, die als Ankerbalken in einem Wall lagen. Von der ursprünglich mehrere Meter hohen Wallkonstruktion haben sich die zwei untersten Lagen aus Stämmen mit bis zu 0,6 m Durchmesser vollständig erhalten. Wahrscheinlich in einer jüngeren Bauphase hat man vor der hölzernen Wallfront eine etwa 1,7 m breite zweischalige Mauer aus in Kalkmörtel gesetzten Steinen (Grauwacken) errichtet. Noch keine Aussagen können beim derzeitigen Arbeitsstand zu einer Toranlage und zur Innenbebauung gemacht werden, diesbezüglich sind jedoch noch sehr interessante Ergebnisse zu erwarten.
Erste dendrochronologische Untersuchungen an Eichenbalken der Burganlage haben gezeigt, dass die Hölzer in den Wintern 1076 und 1077 geschlagen wurden. Hier zeichnet sich ein Zusammenhang mit der als „Sachsenaufstand“ bezeichneten Erhebung gegen den salischen König Heinrich IV. ab, bei der die Herzogin Gertrud von Haldensleben eine wichtige Rolle spielte. Nach der schweren Niederlage der aufständischen Sachsen an der Unstrut im Jahr 1075 hatten sich die noch gegen den Salierkönig aufbegehrenden sächsischen Fürsten wohl im Haldensleber Raum verschanzt. Gertrud von Haldensleben war 1075 in salische Gefangenschaft geraten, aus der sie 1076 freikam. In den folgenden Jahrzehnten stand sie zusammen mit ihrem Enkel, Lothar von Süpplingenburg, der 1125 schließlich die deutsche Königswürde erlangte, im Zentrum des sächsischen Widerstandes.
In der schriftlichen Überlieferung taucht die Burg Niendorf erst anlässlich ihrer Zerstörung im Jahr 1167 auf. Damals soll Erzbischof Wichmann von Magdeburg die dem Welfen Heinrich dem Löwen gehörenden Burgen Niendorf und (Alt-)Haldensleben zerstört haben. Der Haldensleber Raum stellte im 12. Jahrhundert einen welfischen Brückenkopf in das Elbgebiet dar, an den die Welfen aus dem Erbe des erloschenen Haldensleber Grafengeschlechts über Lothar von Süpplingenburg gelangt waren. In dem Ringen zwischen dem welfischen Herzog Heinrich dem Löwen und dem Staufer Friedrich Barbarossa um die Vorherrschaft im deutschen Reich stand der Magdeburger Erzbischof auf Seiten des Stauferkönigs. Nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen konnte Wichmann im Jahr 1181 auch die von Heinrich dem Löwen in der Ohreniederung planmäßig angelegte Marktsiedlung Neuhaldensleben zerstören. Die Bewohner Neuhaldenslebens sollen daraufhin nach Niendorf übergesiedelt sein. Niendorf erlangte so für einige Jahrzehnte frühstädtischen Charakter. Eine im 19. Jahrhundert noch in ihrem gesamten Verlauf erkennbare Wall-Graben-Befestigung umschloss das ca. 35 ha große trapezförmige Siedlungsareal an der Ohre.
Südöstlich der hochmittelalterlichen Burganlage, die momentan freigelegt wird, konnten in den vergangen Monaten umfangreiche Spuren der Besiedlung Niendorfs aus dem 12. und 13. Jahrhundert dokumentiert werden. Neben Teilen des Friedhofs und der Kirchhofsmauer wurde die Struktur der Siedlung mit Holz- und Steingebäuden, Ofenanlagen, Brunnen, und Kloaken großflächig erfasst. Ein mittelalterlicher Kalkbrennofen stellt einen herausragenden Befund dar. Die von jüngerer Bebauung nicht überprägten Siedlungsbefunde sind von außergewöhnlicher Bedeutung für die Erforschung der mitteleuropäischen Stadtgründungsepoche des ausgehenden Hochmittelalters.
Auf dem etwa 5 Hektar großen Grabungsareal wurden bisher bereits mehr als 2.000 Befunde dokumentiert. Der Umfang des sehr reichhaltigen Fundmaterials lässt sich am besten durch sein Gewicht ausdrücken, das bereits neun Zentner ausmacht. Insgesamt sind mehr als 40 Mitarbeiter auf der Ausgrabung beschäftigt. Das große Engagement aller Beteiligten ermöglicht trotz der schwierigen Grabungsumstände einen sehr erfolgreichen Verlauf der archäologischen Untersuchung dieser herausragenden Fundstelle. Das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie bedankt sich für die Unterstützung durch das Landesverwaltungsamt, die Agentur für Arbeit Magdeburg und die ARGE Landkreis Börde. Im Besonderen sei auch der Hermes Fulfilment GmbH für das großzügige Entgegenkommen und vor allem der Stadt Haldensleben für das große Interesse und die fortwährende Unterstützung gedankt.
Die weiteren Untersuchungen der spektakulären hochmittelalterlichen Burganlage aus der Zeit des Sachsenaufstandes sowie der angrenzenden Areale und deren wissenschaftliche Auswertung unter maßgeblicher Einbeziehung der Naturwissenschaften lassen einzigartige Ergebnisse zur geschichtlichen Entwicklung der Region, zu den historischen Ereignissen am Ende der Salierherrschaft und zum hochmittelalterlichen Burgenbau erwarten. Die Burg Niendorf mit ihrer außergewöhnlichen Holzerhaltung stellt in dieser Form einen einmaligen Befund dar. Selten gelingt es, historische Ereignisse derartig auf den Punkt mit archäologischen Entdeckungen zu verknüpfen. Als Rückzugsburg für Gertrud von Haldensleben um 1077 angelegt und zerstört 1167 durch Bischof Wichmann, dessen Grab wohl Anfang des Jahres im Magdeburger Dom bei Ausgrabungen entdeckt wurde macht die Burg Niendorf die Geschichte des Landes buchstäblich greifbar.